Wer in Archiven sucht, entdeckt Interessantes. Günther Schipper vom Volkshochschul-Arbeitskreis "Heimat und Geschichte" hat in geradezu detektivischer Kleinarbeit die Geschichte einer Preßnitzer Musikerin zum Forschein gebracht, die im 19. Jahrhundert bei einer Tournee in Lohr auftrat – sicher ohne zu ahnen, dass das Schicksal sie Jahrzehnte später wieder in die Spessartstadt führen würde, diesmal unfreiwillig und für immer. Weil in Lohr und Umgebung um die 200 der einst 4000 Preßnitzer nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Heimat fanden, gründete sich in Lohr der Heimatverband der Preßnitzer.
Ein Hinweis von Karl Anderlohr auf das Datum 22. März 1889 brachte den Stein ins Rollen. In der Lohrer Zeitung findet sich eine Anzeige für ein Konzert einer österreichischen Mädchenkapelle unter Leitung von Fräulein Lucie Rauscher im Saal des renommierten Hotels Keßler, auch als Hotel Post (heute: Hauptstraße 51) bekannt, das zwischen 1869 und 1893 August Keßler mit seiner Frau Anna führte.
Im Lohrer Anzeiger, der zweiten Lokalzeitung, entdeckt man eine inhaltlich gleiche Anzeige. Zudem wird in den Zeitungen das Programm detailliert aufgeführt. Die Kapelle war auf Tournee und gastierte am darauffolgenden Tag in Gemünden. Die monatelangen Konzertreisen mussten damals akribisch vorbereitet werden, damit an möglichst vielen Tagen und Orten Aufführungen stattfinden konnten.
Musikschule von Weltruf
In der westböhmischen Stadt Preßnitz, die heute nicht mehr existiert, weil sie auf dem Grund eines Stausees verschwand, gegründet Wilhelm Rauscher 1882 eine Musikschule, die nach 1900 Weltruf genoss. Ständig waren an der Musikschule acht bis zehn Lehrkräfte beschäftigt. Raphael Pacher (1857-1936), nach dem Ersten Weltkrieg kurz Staatssekretär für Unterricht der österreichischen Republik, machte als Abgeordneter im Landtag des Königreichs Böhmen in Prag und des Reichstags in Wien seinen Einfluss geltend, damit die städtische, staatlich subventionierte Musikschule in Preßnitz mit zusätzlichen Planstellen ausgestattet werden konnte. Nur mit ausgebildeten und erfahrenen Pädagogen konnte das Niveau aufrechterhalten und gesteigert werden.
Großer Bestand an Instrumenten
Die Mädchen und Jungen der Musikschule übten fleißig und ausdauernd. Die Schule besaß einen großen Bestand an Übungsinstrumenten. So führt ein Inventar von 1935 insgesamt 129 Instrumente auf, darunter 22 Klarinetten, elf Klaviere, 18 Flöten und 15 Geigen. Die Stadt war stets von Musikklängen erfüllt. Im Landkreis Preßnitz lebten 1930 fast 30.000 Menschen, in der Stadt allein waren 2450 Deutsche, 100 Tschechen und 54 Ausländer gemeldet.
Preßnitzer Kapellen, sowohl Damen- als auch Herrenkapellen, spielten Ende des 19. Jahrhunderts auf Messen, in den Konzertsälen mondäner Hotels (zum Beispiel im Shepheard Hotel in Kairo, das gar eine Weile von dem Preßnitzer Moritz Siegl betrieben wurde), in Kaffeehäusern, zudem auf den Decks von Ozeanschiffen. Nach dem Ersten Weltkrieg traten die Kapellen vorwiegend in den westböhmischen Kurbädern Karlsbad, Franzensbad und Marienbad auf.
1874 geboren
Der Name Rauscher elektrisierte Günther Schipper, denn er hatte in der Vergangenheit viele Details über eine Familie Rauscher aus Preßnitz zusammengetragen. Hatte Lucie Rauscher etwas mit der Familie zu tun, über die er schon so viel wusste?
Schipper durchsuchte seine Dateien und die elektronisch verfügbaren Kirchenbücher von Preßnitz und fand, dass Lucie Maria am 29. Mai 1874 als eheliche Tochter von Josef Rimpl, Spitzenhändler in Reischdorf Nr. 60, und Karolina Schlosser aus Reischdorf Nr. 72, geboren wurde. Die Paten waren die Eheleute Maria und Wilhelm Schlosser, ein Musiker aus Preßnitz, Nachbarort von Reischdorf.
Schlosser war der Begründer der bekannten und einflussreichen Preßnitzer Musikschule. Wahrscheinlich starb Lucies leiblicher Vater 1886, denn ihre Mutter heiratete am 20. Oktober 1887 Anton Rauscher, geb. am 5. Juni 1843 in Preßnitz Nr. 206. Er bereiste mit seiner Kapelle ganz Europa. Anton Rauscher starb am 5. Oktober 1916.
1906 heiratete Lucie Rimpl, wieder unter ihrem Mädchennamen, Emil Müller. Beide unterrichteten an der Preßnitzer Musikschule. Emil Müller war von 1931 bis zu ihrer Auflösung 1945 Direktor der Preßnitzer Musikschule. Er konstruierte nach dem Ersten Weltkrieg eine Flöte für eine Hand ("Böhmflöte für Einarmige"), damit kriegsbeschädigte Musiker weiter ihrem Hobby nachgehen konnten. Das Instrument wurde nur in drei Exemplaren angefertigt.
Die Flöte für Einarmige
Eines dieser Instrumente vermachte Müller in der 1950er Jahren dem Spessartmuseum im Lohrer Schloss. In einem Gespräch erzählte er über die Entstehung: "Das kam so. Ich musste im Ersten Weltkrieg einrücken und kam als Solo-Klarinettist zum (österreichischen) 92-er Regiment. Da wurden wir nach Galizien an die Front verfrachtet. Eines Tages riss ein Schrapnell-Stück meinem Nebenmann, der ein sehr guter Flötist war, den linken Arm ab. Mit welcher inneren Teilnahme dies mich ergriff, kann ich nicht schildern, denn für so einen guten Musiker war es nun plötzlich Abend auf dieser Welt geworden. Aus für ihn!", so Müller.
"Dieses erschütternde Ereignis hat mir von nun an aber keine Ruhe mehr gelassen und so machte ich mich daran, Pläne zu schmieden für eine einarmige Flöte. Bald hatte ich diese Flöte fertig. Es fehlte mir noch das hohe viergestrichene A. Noch einmal musste ich den ganzen Klappenkram umwerfen und neu anfangen. Da fuhr ich während der Musikschulferien auf meine Kosten in die Graslitzer ,Kohlert & Söhne Holzblasinstrumentenfabrik' und arbeitete in deren Werkstätten so lange, bis ich es geschafft hatte. Ich gab ein Exemplar jenem Flötisten, der danach auf der einarmigen Flöte spielen konnte", endet Müller Bericht.
Vertreibung führte nach Steinfeld
Nach der Vertreibung aus der alten Heimat im Februar/März 1946 kam das Ehepaar Emil und Lucie Müller nach Steinfeld. Nach dem Tod von Emil Müller zog Lucie Müller nach Pflochsbach, wo sie 1958 starb. Beerdigt wurde sie in Steinfeld neben ihrem Ehemann.