An eine Geschichte aus dem Supermarkt erinnert sich Mohannad noch gern. In Syrien gibt es nämlich so einen Aberglauben unter schwangeren Frauen. Es heißt: Träumt man nachts von einem Mann, dann wird der Sohn einmal genauso aussehen. Seine Frau sitzt neben ihm, lächelt so entschuldigend, wie es nur eine Frau kann, die die gleich folgende Geschichte schon tausendmal gehört hat. "Ich habe meine Kuchen aufgestapelt. Dann habe ich bemerkt – ich hatte damals noch blonde Haare – wie eine schwangere Frau mich tief gemustert hat. Ich glaube, sie wollte sich mich einprägen."
Es dauert eine Weile, bis sich Mohannad solche Geschichten entlocken lässt. Solche aus Zeiten bevor der Krieg ausbrach, bevor er über die Türkei, quer durch Europa bis nach Marktheidenfeld flüchtete. Hier hat er mit seinem Bruder Alaa vor einem Jahr ein Café in der Luitpoldstraße aufgemacht. Zwei Wochen nach der Eröffnung, kam der erste Lockdown. Damit nicht genug: Im Herbst war die Straße vor dem Café eine einzige Baustelle. Und nun, seit dem Winter: Lockdown Nummer 2.
Wer verstehen will, wie einer weiter machen kann, dem das Leben permanent Stöcke in die Speichen treibt, der lernt ein unglaublich hilfsbereites Marktheidenfeld kennen. Zuerst muss man mit Mohannad jedoch zurück in seinen Supermarkt. Er ist sein Lebenswerk, ihn hat er genauso geprägt wie er ihn. Alle seine Geschichten laufen hier zusammen.
Der Supermarkt in Damaskus
Alles begann mit seinem Vater. Der starb bei einem Autounfall, da war Mohannad in der sechsten Klasse. Er wollte ihn und seine Brüder von der Schule abholen. Das Erbe investierten alle fünf gemeinsam in den Supermarkt und machten ihn zum einzigen in Damaskus, der westliche Lebensmittel verkaufte. Jahre später, Mohannad war 17, löste sich eine Konditorei in der Nachbarschaft auf. Mohannad kaufte die paar Küchengerätegeräte auf, richtete sich in den hinteren Räumen des Supermarkts eine kleine Küche ein und begann einfach zu backen.
"Wenn ich arbeite, vergesse ich alles. Wenn ein Kuchen nicht 100 Prozent fertig und perfekt ist, dann geht er nicht raus." Je besser er wurde, desto breiter wurde das Sortiment. Die Soldaten aus den Kasernen im Umkreis rissen sich um seine Sachen. Er stellte Leute ein, die Konditorei wuchs. Praline um Praline formte Mohannad sein Lebenswerk.
Hier traf er auch seine Frau zum ersten Mal, als sie vor der Tür auf den Bus wartete. Sie sei die Schönste gewesen, die er je gesehen habe, sagt er. Er hat tolle grüne Augen. "Die wollte ich für meine Kinder", sagt sie und lacht. Aber: In Syrien datet man nicht einfach herum und heiratet dann irgendwann, sondern es ist eigentlich anders herum. Beide telefonierten erstmal heimlich miteinander, fünf Jahre lang. Als sich ihre Familie ein Telefon mit Nummernanzeige zulegte, hätte das fast alles ruiniert, grinsen sie. Als ihre Mütter ihr Einverständnis gaben, ging dann alles sehr schnell. Sie heirateten, zogen zusammen, bekamen zwei Söhne. Mohannad leistete sich auch einen Luxusgegenstand. Er scrollt durch seinen Facebook-Feed und stoppt bei einem grauen Cadillac-Oldtimer. "Ich liebe amerikanische Autos."
Warum Mohannad aus Syrien flüchtete
Dann kam der Krieg. Seit inzwischen zehn Jahren lässt der syrische Diktator Baschar al-Assad seine Soldaten gegen das eigene Volk kämpfen. 600 000 Tote sollen es laut der Hilfsorganisation World Vision inzwischen sein, darunter 55 000 Kinder. "Leute verschwinden einfach", sagt Mohannad. Wie einer seiner Angestellten: Assads Soldaten kamen in den Supermarkt und nahmen ihn mit. Niemand habe ihn wiedergesehen, sagt Mohannad.
Bis dahin war es für alle vollkommen normal gewesen, dass man, gerade noch vertieft ins Einräumen der Regale, auf einmal in das Gesicht eines Soldaten schaute. An dem einen Tag konnten sie einen fragen, wann es wieder die und die Pralinensorte gibt. Am nächsten Tag könnten sie einen mitnehmen. Das war der Gedanke, mit dem Mohannad fortan zu leben hatte. 2014 holte ihn dann tatsächlich die Armee – aber anders als er dachte. Mohannad sollte eingezogen werden. Er würde zu denen gehören, die Angestellte aus Supermärkten verschwinden lassen. "Das sind deine eigenen Leute, gegen die du kämpfen musst", sagt er.
Er, ein Konditor mit Kalaschnikow? Ein Mann, der Sätze sagt wie: "Ich habe die Möglichkeit, den Leuten durch meinen Beruf Freude zu bringen." Mohannad kann kein Soldat sein. Er beschließt, sein Lebenswerk hinter sich zu lassen, verkauft alles von Wert. Besonders der Cadillac schmerzt. Dann packt seinen ältesten Sohn an der Hand, verspricht Frau und Sohn, sie so bald wie möglich sicher nachzuholen und bricht in die Türkei auf.
Von Damaskus nach Deutschland
Der zweite Teil von Mohannads Geschichte ist wie die Fortsetzung eines Überraschungshits im Kino. Im Kern wiederholt sich alles, nur an einem anderen Ort. Das weiß Mohannad aber noch nicht, als er einem windigen Geschäftsmann fast sein ganzes Geld gibt, um von der Türkei nach Italien überzusetzen. Am Ende landet er mit seinem Sohn und einem Haufen anderen Flüchtenden auf einem verrosteten Schiff, das die Reederei dorthin zum Verschrotten geschickt hat. Von Italien aus hangeln sich er und sein Sohn bis hoch in die Niederlande. Sein Bruder ist schon dort.
Nach einem Jahr geht es weiter in eine Unterkunft nach Bruchsal in der Nähe von Karlsruhe – zu Frau und Sohn. Sie waren über die Osteuropa-Route gekommen. "Zu Fuß. Ihre Füße haben geblutet", sagt Mohannad. Kurz darauf zeigt im ein freiwilliger Helfer eine Anzeige in der Lokalzeitung: Konditor gesucht. Er hat einen Konkurrenten um die Stelle, deutsch und mit abgeschlossener Ausbildung. Mohannad setzt sich durch.
In Bruchsal beginnt die Familie ein zweites Mal, sich ein Leben aufzubauen. Die Jungs schreiben gute Noten in der Schule, obwohl die Eltern nur bedingt helfen können. Die machen nämlich Führerschein, arbeiten und besuchen Deutschkurse. Mohannad erzählt: "Mein Chef sagte einmal, dass ich das Mehl sieben soll. Ich fragte: Sieben, ist das nicht eine Zahl?". Außerdem kommt in Bruchsal Sandra auf die Welt. Der Name, syrisch und deutsch zugleich. Mit einem syrischen Namen habe man es in Deutschland schwerer, glaubt Mohannad. Seine Söhne fänden zum Beispiel keine Freunde. Sandra soll es da mal leichter haben.
Das Café in Marktheidenfeld: wie es dazu kam
Seit Monaten hat Mohannad den hinteren Bereich mit einer Pflanze blockiert. Das inzwischen zweite Mal. An dem Tisch, wo sich normalerweise jede Woche ein Frauen-Stammtisch träfe, kann Mohannad nur dem Autoren einen Teller mit Pralinen hinschieben. Alle handgemacht. Ohne Zusatzstoffe, geformt nur mithilfe seiner Hände, einer Schüssel und einem Mixer, sagt er. "Wir haben keine großen Maschinen, aber Erfahrung."
Dass er nun in Marktheidenfeld ist, ist eher Zufall. Nach vier Jahren sei er aus Bruchsal weggegangen, weil er wieder etwas Eigenes wollte. Die Lage war gut, das Café war bereits eingerichtet und die Vermieterin nett, sagt Mohannad. Ohne ihre Hilfe, die seiner Freunde und von anderen Marktheidenfeldern würde es sein Café vielleicht gar nicht mehr geben. Im ersten Lockdown ließ sie ihn die Miete noch stunden, im zweiten Lockdown verzichtete sie sogar einmal ganz darauf. Mohannad erzählt auch vom Hotel "Mainblick", das seinem Bruder und ihm zwei vergünstigte Betten anbot. Die beiden von der Kreativagentur "Zweiten Heimat" helfen ihm bei der Werbung und einer Homepage.
Ein Stadtrat grüßt herein. Früher hätten viele Leute nur probiert, sagt Mohannad. Heute kämen die Leute gezielt zu ihm. "Deswegen bleiben wir offen. Wir sind das einzige Pralinen-Geschäft in der Umgebung." Er glaubt, dass er gerade jetzt damit helfen könne. "Hast du schon mal jemanden gesehen, der in Schokolade beißt und danach nicht lächelt?".
Jetzt setzt Mohannad alles auf Ostern, er hat eigens neue Kreationen geschaffen. Er will weiter kämpfen, sagt er. Für einen, der vom Krieg geflohen ist, kann er das ganz schön gut.
Neidisch?