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Lohr
Wenn Lachs einfach zu teuer ist
Rund 400 Haushalte mit 852 Personen erhalten derzeit von der Lohrer Tafel Lebensmittel.
Foto: Pat Christ | Rund 400 Haushalte mit 852 Personen erhalten derzeit von der Lohrer Tafel Lebensmittel.
Pat Christ
Pat Christ
 |  aktualisiert: 13.09.2023 02:46 Uhr

Manche Jobs werden regelrecht als Ausbeuterei erlebt. Anna P. aus Lohr kann davon ein Lied singen. Die heute 70-Jährige ist gelernte Friseurin. In ihrem Beruf hat sie nur sehr wenig verdient: "Ich hab außerdem in Hotels gearbeitet." Auch das war schlecht entlohnt. Heute bezieht die Seniorin eine Rente von weniger als 1000 Euro. Davon muss sie Miete, Nebenkosten und Krankenversicherung zahlen. Ohne die Tafel der Lohrer Diakonie, sagt Anna P., wüsste sie angesichts der Teuerungen nicht, wie sie überleben sollte.

Bei der Tafel bekommt Anna P. einmal pro Woche zu circa 90 Prozent das, was sie gerne mag. "Ich esse sehr viel Obst und Gemüse", erzählt die Rentnerin, die es liebt, sich Suppen zu kochen. Oft erhält sie von den Tafel-Mitarbeiterinnen Karotten. Oft landet Sellerie in ihrer Tafel-Einkaufstasche. Einmal in der Woche kauft Anna P. bei einem Discounter ein. Beim letzten Mal war sie geschockt: Zwei kleine Bananen kosteten 98 Cent. "Ich dachte mir, das gibt’s doch nicht", ruft sie aus. Von einigen Sachen, die sie hin und wieder gerne essen würde, kann Anna P. nur träumen: "Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich mir manchmal Lachs kaufen, Lachs schmeckt so gut."

Anna P. muss mit dem vorlieb nehmen, was die Tafel-Mitarbeiterinnen gerade dahaben. Die Regale, sieht sie, leeren sich: "Früher gab es vier Kisten mit süßen Teilchen, heute gibt es nur noch eine, und wenn ich dran bin, ist die schon halb leer." Weil der Andrang so groß ist, wurde, wie Michael Donath von der Lohrer Diakonie bestätigt, vor drei Wochen ein Aufnahmestopp beschlossen. "So was hab ich noch nie erlebt", sagt Anna P., die seit über zehn Jahren zur Tafel geht. Der Aufnahmestopp, betont Michael Donath, gilt aber nicht für Rentner und Menschen mit Behinderung: "Die erhalten einen ‚Weißen Schein‘, mit dem sie weiterhin jede Woche kommen können."

Salbe kostenfrei erhalten

Während in der Fachwelt aktuell lebhaft darüber diskutiert wird, was gegen die wachsende finanzielle Not in der Bevölkerung getan werden könnte, erlebt Anna P. Armut Tag für Tag am eigenen Leib. Neulich zum Beispiel, erzählt die Rentnerin, habe sie sich ein Hämatom zugezogen. Ein Lohrer Arzt verschrieb ihr eine Salbe. Allerdings nicht auf Kassenrezept: "In der Apotheke hörte ich, dass die Salbe 56 Euro kostet, das kann ich mir auf keinen Fall erlauben." In ihrer Not wandte sich Anna P. wieder einmal an Michael Donath. Der Geschäftsführer der Lohrer Diakonie aktivierte sein Netzwerk und schaffte es, dass Anna P. die Salbe schließlich umsonst erhielt.

Anna P., die als junge Frau im Ausland wohnte, lebt in Armut, seit sie wieder nach Deutschland gekommen ist. Arm zu sein, bedeutet für sie, sich bei allen Extras, die finanziert werden müssen, den Kopf zu zerbrechen: Wie kommt sie zu Geld? Braucht Anna P., bei der 2009 eine Netzhautablösung festgestellt wurde, wieder mal eine neue Brille, wendet sie sich an eine Münchner Stiftung. Arme Bürger aus Main-Spessart haben laut Michael Donath außerdem die Möglichkeit, den Verein "Goldenes Herz" in Lohr um Hilfe zu bitten. Auch der Lions Club unterhält einen Hilfsfonds. Von "ihrer" Münchner Stiftung weiß Anna P., dass die gerade mit Anfragen überschwemmt wird.

Ein Kinobesuch ist unmöglich

Anna P. fragt sich manchmal, wo das alles hinauslaufen soll. Immer mehr Leute, erfährt sie bei ihren wöchentlichen Tafel-Gängen, sind auf Hilfe angewiesen. Unlängst kam sie in Kontakt mit einer Ukrainerin, die sich ohne ihren Mann mit zwei Kindern durchschlagen muss. Zufällig zog zu jenem Zeitpunkt gerade ihr Bruder um und mistete seine alte Wohnung aus: "Ich konnte ihr schönes Geschirr und Töpfe bringen, darüber hat sich die Frau total gefreut."

Als Lehrerin oder Ingenieurin hätte sie viel mehr verdient und deshalb nun mehr Rente, weiß Anna P. Ihr klingt noch die Warnung ihres Papas im Ohr: "Werde nicht Friseurin, da verdienst du nichts!" Doch was sollte sie tun. Friseurin war ihr Traumberuf: "Ich liebe es, andere Leute hübsch zu machen." Ist sie also selbst schuld daran, dass sie jetzt derart herumkrebst? Als sie zum ersten Mal zur Tafel ging, gab sie Michael Donath gegenüber zu: "Ich schäme mich so." Wie erleichtert war sie, als der zu ihr sagte: "Nicht Sie müssen sich schämen, Deutschland muss sich schämen!"

Ob Diakonie, Johanniter oder Caritas: Alle Wohlfahrtsorganisationen bekommen aktuell mit, wie schlecht es immer mehr Menschen geht. "Die Situation hat sich zugespitzt", sagt Michael Donath. Wobei die Geldnot nur eine Seite der Medaille ist. Ausgrenzung macht die andere Seite aus. Auch Anna P. hat manchmal das Gefühl, ausgegrenzt zu sein. Einen Kinobesuch zum Beispiel, sagt sie, könne sie sich unmöglich leisten. "Das einzige, was ich mir gönne, um hin und wieder rauszukommen, ist, dass ich alle zwei bis drei Wochen in eine Lohrer Gaststätte gehe und ein Hefeweizen für 3,20 Euro trinke."

Leistungen der Lohrer Tafel

Das Diakonische Werk Lohr ist Träger der Lohrer Tafel, von der derzeit laut eigenen Angaben circa 400 Haushalte mit 852 Personen mit Lebensmitteln versorgt werden, darunter 268 Hilfebedürftige aus der Ukraine. Besonders auffällig sei in jedem Jahr der hohe Anteil von Rentnern und behinderten Menschen, der laut Mitteilung zwischen 25 und 30 Prozent liegt. Viele Rentner sind den Angaben zufolge oft längere Zeit sehbeeinträchtigt, weil sie sich keine neue Brille leisten können. Michael Donath, Geschäftsführer der Diakonie Lohr, hilft hier zum Beispiel mit Anträgen bei einer Stiftung in München, die Brillen finanziert. Donath betont, dass die Hilfsbedürftigen in der Diakonie Lohr nicht nur einen Tafelschein für die Lebensmittel bekommen können, sondern auch weitere Hilfsmöglichkeiten mit den Klienten überlegt werden. Die Einkommensgrenzen für den Erhalt eines Berechtigungsscheins der Lohrer Tafel seien höher als das aktuelle Bürgergeld.
Folgende Leistungen können Rentner, Senioren und behinderte Menschen laut einer Mitteilung der Diakonie Lohr in Anspruch nehmen: Einmal wöchentlich Besuch der Lohrer Tafel mit bevorzugtem Einlass, ohne längere Wartezeit, mit weißem Schein, mittwochs oder samstags. Oder mit kostenlosem Tafelbegleitservice, Abholung zu Hause, Begleitung durch die Tafel, Hilfe beim Einladen und Auspacken. Oder kostenloser Lieferservice von Lebensmitteln am Samstag nach Hause.
Wer weitere Auskünfte oder diese Dienste finanziell unterstützen möchte, soll sich an die Diakonie-Geschäftsstelle (Lohrer Tafelbüro) wenden unter Tel.: (09352) 6064248.
Quelle: Pat Christ
Anna P. kann sich höchstens einmal in der Woche frisches Obst und Gemüse aus dem Discounter leisten. 
Foto: Pat Christ (Archivfoto) | Anna P. kann sich höchstens einmal in der Woche frisches Obst und Gemüse aus dem Discounter leisten. 
Michael Donath, Geschäftsführer des Diakonischen Werks Lohr, hilft armen Menschen aus Main-Spessart bei akuten finanziellen Engpässen.
Foto: Pat Christ (Archivfoto) | Michael Donath, Geschäftsführer des Diakonischen Werks Lohr, hilft armen Menschen aus Main-Spessart bei akuten finanziellen Engpässen.
 
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