
Manche Jobs werden regelrecht als Ausbeuterei erlebt. Anna P. aus Lohr kann davon ein Lied singen. Die heute 70-Jährige ist gelernte Friseurin. In ihrem Beruf hat sie nur sehr wenig verdient: "Ich hab außerdem in Hotels gearbeitet." Auch das war schlecht entlohnt. Heute bezieht die Seniorin eine Rente von weniger als 1000 Euro. Davon muss sie Miete, Nebenkosten und Krankenversicherung zahlen. Ohne die Tafel der Lohrer Diakonie, sagt Anna P., wüsste sie angesichts der Teuerungen nicht, wie sie überleben sollte.
Bei der Tafel bekommt Anna P. einmal pro Woche zu circa 90 Prozent das, was sie gerne mag. "Ich esse sehr viel Obst und Gemüse", erzählt die Rentnerin, die es liebt, sich Suppen zu kochen. Oft erhält sie von den Tafel-Mitarbeiterinnen Karotten. Oft landet Sellerie in ihrer Tafel-Einkaufstasche. Einmal in der Woche kauft Anna P. bei einem Discounter ein. Beim letzten Mal war sie geschockt: Zwei kleine Bananen kosteten 98 Cent. "Ich dachte mir, das gibt’s doch nicht", ruft sie aus. Von einigen Sachen, die sie hin und wieder gerne essen würde, kann Anna P. nur träumen: "Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich mir manchmal Lachs kaufen, Lachs schmeckt so gut."
Anna P. muss mit dem vorlieb nehmen, was die Tafel-Mitarbeiterinnen gerade dahaben. Die Regale, sieht sie, leeren sich: "Früher gab es vier Kisten mit süßen Teilchen, heute gibt es nur noch eine, und wenn ich dran bin, ist die schon halb leer." Weil der Andrang so groß ist, wurde, wie Michael Donath von der Lohrer Diakonie bestätigt, vor drei Wochen ein Aufnahmestopp beschlossen. "So was hab ich noch nie erlebt", sagt Anna P., die seit über zehn Jahren zur Tafel geht. Der Aufnahmestopp, betont Michael Donath, gilt aber nicht für Rentner und Menschen mit Behinderung: "Die erhalten einen ‚Weißen Schein‘, mit dem sie weiterhin jede Woche kommen können."
Salbe kostenfrei erhalten
Während in der Fachwelt aktuell lebhaft darüber diskutiert wird, was gegen die wachsende finanzielle Not in der Bevölkerung getan werden könnte, erlebt Anna P. Armut Tag für Tag am eigenen Leib. Neulich zum Beispiel, erzählt die Rentnerin, habe sie sich ein Hämatom zugezogen. Ein Lohrer Arzt verschrieb ihr eine Salbe. Allerdings nicht auf Kassenrezept: "In der Apotheke hörte ich, dass die Salbe 56 Euro kostet, das kann ich mir auf keinen Fall erlauben." In ihrer Not wandte sich Anna P. wieder einmal an Michael Donath. Der Geschäftsführer der Lohrer Diakonie aktivierte sein Netzwerk und schaffte es, dass Anna P. die Salbe schließlich umsonst erhielt.
Anna P., die als junge Frau im Ausland wohnte, lebt in Armut, seit sie wieder nach Deutschland gekommen ist. Arm zu sein, bedeutet für sie, sich bei allen Extras, die finanziert werden müssen, den Kopf zu zerbrechen: Wie kommt sie zu Geld? Braucht Anna P., bei der 2009 eine Netzhautablösung festgestellt wurde, wieder mal eine neue Brille, wendet sie sich an eine Münchner Stiftung. Arme Bürger aus Main-Spessart haben laut Michael Donath außerdem die Möglichkeit, den Verein "Goldenes Herz" in Lohr um Hilfe zu bitten. Auch der Lions Club unterhält einen Hilfsfonds. Von "ihrer" Münchner Stiftung weiß Anna P., dass die gerade mit Anfragen überschwemmt wird.
Ein Kinobesuch ist unmöglich
Anna P. fragt sich manchmal, wo das alles hinauslaufen soll. Immer mehr Leute, erfährt sie bei ihren wöchentlichen Tafel-Gängen, sind auf Hilfe angewiesen. Unlängst kam sie in Kontakt mit einer Ukrainerin, die sich ohne ihren Mann mit zwei Kindern durchschlagen muss. Zufällig zog zu jenem Zeitpunkt gerade ihr Bruder um und mistete seine alte Wohnung aus: "Ich konnte ihr schönes Geschirr und Töpfe bringen, darüber hat sich die Frau total gefreut."
Als Lehrerin oder Ingenieurin hätte sie viel mehr verdient und deshalb nun mehr Rente, weiß Anna P. Ihr klingt noch die Warnung ihres Papas im Ohr: "Werde nicht Friseurin, da verdienst du nichts!" Doch was sollte sie tun. Friseurin war ihr Traumberuf: "Ich liebe es, andere Leute hübsch zu machen." Ist sie also selbst schuld daran, dass sie jetzt derart herumkrebst? Als sie zum ersten Mal zur Tafel ging, gab sie Michael Donath gegenüber zu: "Ich schäme mich so." Wie erleichtert war sie, als der zu ihr sagte: "Nicht Sie müssen sich schämen, Deutschland muss sich schämen!"
Ob Diakonie, Johanniter oder Caritas: Alle Wohlfahrtsorganisationen bekommen aktuell mit, wie schlecht es immer mehr Menschen geht. "Die Situation hat sich zugespitzt", sagt Michael Donath. Wobei die Geldnot nur eine Seite der Medaille ist. Ausgrenzung macht die andere Seite aus. Auch Anna P. hat manchmal das Gefühl, ausgegrenzt zu sein. Einen Kinobesuch zum Beispiel, sagt sie, könne sie sich unmöglich leisten. "Das einzige, was ich mir gönne, um hin und wieder rauszukommen, ist, dass ich alle zwei bis drei Wochen in eine Lohrer Gaststätte gehe und ein Hefeweizen für 3,20 Euro trinke."
Leistungen der Lohrer Tafel

