zurück
Marktheidenfeld
Wenn die Wodka-Flasche "Sto lat" krächzt
Der Saarländer Hans Bollinger machte sich in der Stadtbücherei auf den Weg durch das Nachbarland Polen
Foto: Martin Harth | Der Saarländer Hans Bollinger machte sich in der Stadtbücherei auf den Weg durch das Nachbarland Polen
Martin Harth
Martin Harth
 |  aktualisiert: 12.04.2019 02:12 Uhr

Ein Paar Zuhörer mehr hätte die Lesung von Hans Bollinger aus seinem Buch "Unterwegs in Polen" am frühen Sonntagabend durchaus verdient gehabt. Schließlich will man in Kürze die trinationale Städtepartnerschaft mit Montfort sur Meu und Pobiedziska neuerlich hochleben lassen. Knapp 20 Zuhörer waren der Einladung des Städtepartnerschaftskomitees in die eigens dazu geöffnete Stadtbibliothek an der Schmiedsecke gefolgt. Bürgermeisterin Helga Schmidt-Neder freute sich dennoch über die Initiative.

Autor, Volkssänger und Pädagoge Hans Bollinger entwickelte schon in seiner Schulzeit ein Faible für Osteuropa, dessen weite Landschaft und Natur. Mit Polen kam er auf ganz besondere Weise in Berührung, als er 1976 zur Zeit des noch andauernden Kalten Kriegs im oberschlesischen Zabrze seine Frau heiratete.

Der frühere Schulrektor aus dem Saarland, der unter anderem in seiner Heimatgemeinde Gersheim ein ökologisches Landschulheim leitete, fühlt sich dem Weimarer Dreieck, einem politischen Gesprächsansatz zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, besonders verpflichtet. Dieses motiviert auch Marktheidenfelds aktive Städtepartnerschaften. Bollinger stellte Polen als ein aufstrebendes, modernes, europäisches Staatswesen mit aufgeschlossenen Bürgern dar und von diesem Urteil lasse er sich von politischen Rückschlägen wie durch die gegenwärtige polnische Regierung letztlich auch nicht abbringen.

Verschlungene Pfade

Was Grenzen in Europa bedeuteten, könne heute kein junger Mensch mehr so richtig wissen, meinte er und berichtete lesend wie erzählend von seinen Erfahrungen, als er seine Frau kennengelernt hatte, sie auf beschwerlichen wie verschlungenen Pfaden schließlich heiratete und mit nach Deutschland brachte. Bei allen Problemen habe er aber die Menschen im östlichen Nachbarland schätzen und lieben gelernt, vor allem deren Herzlichkeit.

Bollinger fühlt sich dem Wandervogel verpflichtet, singt gerne und gehörte früher zur deutschen Folkgruppe "Espe". Wohl auch deshalb schlägt er in seinem Buch mit dem Dichter Joseph von Eichendorff ein ganz eigenes Kapitel der wechselvollen deutsch-polnischen Geschichte auf. 1788 ist der Schriftsteller und Lyriker der Romantik im Schloss Lubowitz bei Ratibor (heute Racibórz) in Schlesien geboren worden.

Das Gebäude ist heute eine Ruine, aber aus den dort bei einem Besuch gesammelten Eicheln ist im Saarland heute ein schöner Baum herangewachsen. So griff Bollinger dann auch gerne zur Gitarre und stellte Vertonungen von passenden Eichendorff-Gedichten vor: "Wandern lieb ich für mein Leben", "In einem kühlen Grunde" oder "O du stille Zeit".

Ein weiteres Kapitel machte betroffen. Auf seinen Reisen durch Polen entdeckte Bollinger auf einer Wanderung im Karpatenvorland nach einer Rast im Wald nahe des Halbowska-Passes bei Krempna völlig unerwartet einen Friedhof. In einem Massengrab sind dort 1250 jüdische Polen bestattet, die im Juli 1942 an dieser Stelle von den deutschen Besatzern ermordet worden waren. Den einzigen zufälligen Augenzeugen, ein damaligen Hirtenjungen, hat der Saarländer später noch persönlich kennengelernt. Der Volkssänger sang nach dieser Schilderung ein trauriges, wie trotziges Lied von Leib Rosenthal aus dem Wilnaer Ghetto des Jahres 1943 "Mir lebn ejbig!"

Zum Ausklang hatte Bollinger eine heitere Episode parat. Im Westpommerschen Ostseebad Koszalin hatte sich seine Frau Wellness-Freuden hingegeben. Der Aufenthalt im Hotel strapazierte das Urlaubsbudget. Deshalb wollte das Ehepaar Kosten sparen und abends auf der Hotelterrasse heimlich Wodka in den Orangensaft mischen. Als die Flasche verstohlen unter dem Tisch geöffnet wurde, passierte das Malheur. Ein eingebauter und bis dato unentdeckter Musikmechanismus krächzte unerwartet die polnische Geburtstagshymne "Sto lat" ("Hundert Jahre") und alle Gäste drehten sich nach dem deutschen Ehepaar mit den hochroten Köpfen um.

Buchtipp: Hans Bollinger, Unterwegs in Polen; Begegnungen mit Menschen ihrer Geschichte und Heimat, Geistkirch-Verlag, Saarbrücken, 2016, 176 Seiten, ISBN 978-3946036494

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Marktheidenfeld
Martin Harth
Beerdigungen
Buchtipps
Bücher
Bürgermeister und Oberbürgermeister
Gettos
Helga Schmidt-Neder
Hochzeiten
Joseph von Eichendorff
Kapitel
Lyriker
Schulrektoren
Staatswesen
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top