Von der vermutlich bald 800 Jahre alten Gemündener Stadtmauer kennen viele nur den zum Parkplatz Mainstraße/Bundesstraße hin gut sichtbaren Teil. Doch es gibt noch mehr von ihr, wenn auch gut versteckt. Einst umschloss die Ringmauer, wohl mit Wehrgang versehen, in Gestalt eines Rechtecks die gesamte Altstadt bis hinauf zur Scherenburg. Eckpunkte waren im Süden der heute gemeinhin „Eulenturm“ geheißene Turm an der Ecke gegenüber dem Koppen, im Westen der „Hexenturm“ an der Fischergasse und im Osten die Scherenburg. Ob an der nördlichen Ecke am Mühlgraben auf Höhe des Mühltores dereinst ein weiterer Turm stand, ist unbekannt.
Im Januar 1993 machte ein Teil der Gemündener Stadtmauer, die sich an der Seite des damals noch „Apothekergarten“ genannten Ronkarzgartens hinauf zur Burg zieht, Schlagzeilen, weil sie auf etwa 15 Metern Länge einstürzte. Die Mauer aus Sandstein wurde wieder aufgebaut, allerdings nicht Stein auf Stein, sondern standsicher als massiv gegossene, stahlarmierte Betonmauer. Des historischen Ambientes wegen wurde der nackte Beton jedoch mit den alten Bruchsteinen verkleidet.
Früher war Stadtmauer zum Main hin von außen zugebaut
Der heute sichtbare Teil der Stadtbefestigung zum Parkplatz Mainstraße hin an der Bundesstraße war nicht immer so sichtbar – und nicht immer so sehenswert. Früher waren dort von außen Häuser an die Stadtmauer angebaut, wie man es heute noch gegenüber dem Koppen in der Mainstraße wie auch oberhalb der Obertorstraße sehen kann. In den Sechzigerjahren war die Stadtmauer dort auch durchbrochen worden. 1989 jedoch wurde beschlossen, die Mauer wieder zu schließen. Damals boten die Reste der dortigen Stadtmauer einen traurigen Anblick, verfielen zusehends.
Ein im Rathaus für die Altstadtsanierung zuständiger Ingenieur hatte 1988 die Stadtmauer erforscht und ihren Verlauf ermittelt. Dafür war er über Balkone geklettert und durch Keller gekrochen. Überall fand er zumindest Reste der Mauer, was sogar manchen Anwohner überraschte, der nichts von dem historischen Gemäuer, das bei ihm den Boden trägt oder den Raum teilt, gewusst hatte.
Anfang der Neunziger wurde der etwa 45 Meter lange Abschnitt zum Main hin tatsächlich saniert: freigelegt, ergänzt, wieder errichtet. Dafür mussten Garagen und ein Stück des ehemaligen Schlecker-Lagers, ein moderner Zweckbau, weichen. Weitere Anbauten außen an der Mauer waren zu diesem Zeitpunkt schon wieder verschwunden.
Oberes Tor beim Geschäft Sitzmann 1817 abgebrochen
Das Obere Tor in Richtung Karlstadt stand einst dort, wo heute der Gemischtwarenladen Sitzmann ist. Während man auf der Sitzmann-Seite auf den ersten Blick nichts mehr von der Stadtmauer sieht, schaut auf der gegenüberliegenden Seite der Obertorstraße, zwischen dem Bürgerbüro von Bernd Rützel und dem momentan leer stehenden ehemaligen Bistro, ein abgeschnittenes Stück der Stadtmauer hervor. Dort sieht man zu beiden Seiten deutlich die Bebauung innen und außen an der Mauer.
Wirft man einen genaueren Blick auf das Haus Sitzmann, fällt auf, dass es zweigeteilt ist. Der Teil in Richtung Innenstadt hat ein Giebeldach, der andere ein Flachdach. Auch an der Fassade ist eine Nahtstelle zu erkennen. Im Laden führen Stufen vom außerhalb der Stadtmauer gelegenen Hausteil zum innerhalb gelegenen. Julius Sitzmann, 88, und in dem Haus aufgewachsen, erzählt, dass in der ehemaligen Küche im ersten Stock über dem Herd eine in die Stadtmauer geklopfte Nische als Schrank diente.
Früher waren das Geschäft Sitzmann zwei Häuser
Er erinnert sich noch, dass es früher zwei Häuser mit zwei Kellern waren. Das Haus mit dem Giebel sei das ältere. Etwa 1963 habe der Umbau stattgefunden, bei dem die Stadtmauer durchbrochen und die Häuser verbunden wurden. „Die Mauer war steinhart“, sagt Sitzmann. Die Arbeiter der Baufirma mussten den Meißel des Presslufthammers immer wieder schärfen.
Laut Georg Höflings „Historisch-topographisch-statistische Notizen über das Städtchen Gemünden“ (1838) wurde das obere Tor ebenso schon 1817, also vor 200 Jahren, abgerissen wie das „Brückentor“ auf der Saalebrücke nach Kleingemünden hin. Von den einst drei Stadttoren steht nur noch das Mühltor. Die Stadtwehren hatten ihre militärische Bedeutung verloren, und die bayerische Regierung hatte nach der endgültigen Eingliederung ins Königreich Bayern zunächst kein Interesse am Fortbestand von mittelalterlichen Stadtmauern. Der bayerische König Ludwig I. von Bayern (Regierungszeit 1825 bis 1848) rettete die restliche Stadtmauer, indem er 1826 den weiteren Abriss mittelalterlicher Stadtwehren untersagte.
Durch königlichen Erlass blieb Stadtmauer erhalten
So blieb in Gemünden der Mauerabschnitt vom Mühltorturm hinauf zur Scherenburg ebenso erhalten wie der Abschnitt von der Burg hinunter zum Main. Nach den Spuren muss man mitunter suchen. Die freistehenden Mauerabschnitte unterhalb der Burg sind häufig etwas zugewachsen, sodass man manchmal genauer hinschauen muss. Vor den Kriegszerstörungen hatten der Mühltorturm und das Amtsschreiberpförtchen eine barocke Turmhaube.