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LOHR
Was Erdogan von Hitler unterscheidet
Am Mittwoch stellte der Historiker Klaus Schönhoven in Lohr sein Buch „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ vor.
Foto: Dehm | Am Mittwoch stellte der Historiker Klaus Schönhoven in Lohr sein Buch „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ vor.
Wolfgang Dehm
 |  aktualisiert: 12.07.2017 03:51 Uhr

„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“, heißt das jüngste Werk des Historikers Klaus Schönhoven; es befasst sich mit dem Schicksal der 1933 gewählten SPD-Reichstagsabgeordneten in der zu Ende gehenden Weimarer Republik.

Am Mittwochabend stellte der emeritierte Professor für politische Wissenschaft und Zeitgeschichte, der in wenigen Tagen 75 wird, sein Buch auf Einladung des SPD-Kreisverbandes Main-Spessart vor rund 20 Leuten im Lesesaal der Stadtbibliothek vor. Mit seinem Buch wolle er an die Demokraten in der Diktatur zu erinnern, sagte Schönhoven.

Er sei geschockt vom Rechtsradikalismus und Populismus der letzten Jahre, stellte Schönhoven seinem geschichtlichen Rückblick voraus. Dass bei einer Pegida-Demonstration in Dresden eine Tafel mit Bundeskanzlerin Merkel am Galgen hochgehalten worden sei, gehe deutlich zu weit. Er kritisierte auch, dass die Sache bis heute nicht strafrechtlich verfolgt worden sei; man sei „auf dem rechten Auge immer noch blind“.

In der deutschen Erinnerungspolitik dominiert laut Schönhoven die Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es sei aber genauso wichtig, an die Demokratiegeschichte zu erinnern.

Seinen Worten zufolge war die demokratische Weimarer Republik in Deutschland mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes vom 23. März 1933 gestorben. Schönhoven betonte in diesem Zusammenhang, dass Hitler die Macht nicht ergriffen habe – „sie wurde ihm ausgeliefert“.

An der Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz nahmen laut Schönhoven von den insgesamt 120 SPD-Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik nur 94 teil; diese jedoch stimmten seinen Worten nach alle gegen das Gesetz – was nichts daran änderte, dass es mehrheitlich beschlossen wurde. Der Titel seines Buches „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ stamme aus der Rede des SPD-Reichstagsabgeordneten Otto Wels gegen das Ermächtigungsgesetz.

In der ausgehenden Weimarer Republik wurden die 120 SPD-Reichstagsabgeordneten laut Schönhoven kriminalisiert. Sie seien Tag und Nacht vom Geheimdienst überwacht worden, zwei Drittel von ihnen seien mindestens einmal verhaftet worden, 23 wurden seinen Worten nach gezielt ermordet, drei begingen Selbstmord, 40 emigrierten.

Laut Schönhoven gab es drei große Verhaftungswellen gegen Sozialdemokraten: 1933 nach Hitlers Machtübernahme, zum Kriegsbeginn 1939 und nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler im Juli 1944. Viele Sozialdemokraten wurden laut Schönhoven neun bis 12 Jahre in so genannten Konzentrationslagern (KZ) festgehalten und gequält.

Die Rachsucht der Nationalsozialisten sei grauenhaft gewesen, sagte der Historiker und zeigte dies exemplarisch an den Schicksalen der SPD-Reichstagsabgeordneten Fritz Husemann, Ernst Heilmann und Kurt Schumacher auf.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war in der jungen Bundesrepublik Deutschland laut Schönhoven „eine Zeit des kollektiven Schweigens“, man habe die NS-Zeit tabuisiert; auch die SPD habe in den 1950er und 1960er Jahren nichts mehr davon wissen wollen. Schönhoven bekannte, dass er heute mehr Verständnis habe für das Schweigen in den Familien, als in seiner Jugend. Kein Verständnis habe er allerdings für das Schweigen in der Politik.

An Schönhovens Ausführungen schloss sich eine rege Diskussion an, unter anderem ging es um die politische Situation in der Türkei. Nach Schönhovens Einschätzung ist Erdogan zwar ein Nationalist und die Lage in der Türkei sei schwierig. Dennoch wolle er nicht so weit gehen und sagen, Erdogan sei ein türkischer Hitler; dazu fehle die Komponente Rassismus.

Sven Gottschalk, Vorsitzender des SPD-Kreisverbandes Main-Spessart, dankte Schönhoven mit einer Flasche Fabulologenwein für den „unter die Haut gehenden Vortrag“. Mit Blick auf die Gegenwart erinnerte Gottschalk an die Situation in Ländern wie Afghanistan, wo Menschen gefoltert würden. Vor diesem Hintergrund wünschte er sich einen sensibleren Umgang mit dem Thema Flucht.

Ein kleines Kontingent des im Bonner Dietz-Verlages erschienenen Buches „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ ist in der Lohrer Bücherecke vorrätig.

 
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