Das eurozentrische Weltbild und das Selbstverständnis europäischer Vorherrschaft gehören bis heute zu den Stereotypen der viel diskutierten „europäischen Identität“. In der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trugen sie wesentlich dazu bei, dass sich Nationalismus, Imperialismus, Kolonialismus, Rassismus und Angst vor Fremden gegenüber den kosmopolitischen Ideen der Aufklärung durchsetzten.
Das Lohrer Schulmuseum verfügt über einen umfangreichen Bestand von Schulwandbildern aus der Zeit von 1870 bis 1980, darunter auch solche, die Bezug haben zum Thema „Europa“. Sie zeigen auf der einen Seite, wie die schulische Erziehung an der Erzeugung und Verfestigung solcher Erblasten mitwirkte. Auf der anderen Seite dokumentieren sie auch die Versuche, nach dem Zweiten Weltkrieg diese Erblasten durch eine gezielte Europaerziehung zu bewältigen.
Schulwandbilder bringen komplexe Sachverhalte in eine einfache, anschauliche und schülergerechte Form und bieten eine gute Quelle für die Zeitgeistforschung. So zeigen Wandbilder die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts verbreitete „Vision“ von der natürlichen Überlegenheit der Europäer und der Rechtmäßigkeit ihrer globalen Vormachtstellung. Am deutlichsten tritt dies in einer Wandtafel über die Menschenrassen aus dem Jahr 1902 zutage. Der Vertreter der europäischen, mittelländischen Rasse bildet nicht nur den überragenden Bildmittelpunkt, um den sich die anderen Rassen gruppieren, er blickt als einziger entschlossen in die Zukunft, ist als einziger zivilisiert gekleidet und nimmt eine entsprechende herrische Haltung ein. Symbolisch kommt der Anspruch der Europäer zum Ausdruck, Träger der Zivilisation und der Weltgeschichte zu sein.
Der Nationalsozialismus bediente sich zur Rechtfertigung einer aggressiven Expansionspolitik im Osten unter der Devise „Rückgewinnung germanischen Lebensraums“ vor allem geschichtlicher Motive und Persönlichkeiten wie Heinrich der Löwe, Otto der Große oder Blücher. Karten wie „Deutsche in Europa“, welche die Größe des deutschen Volkes und im Gegensatz dazu die Kleinheit Deutschlands in Bezug setzten, sollten den Slogan vom „Volk ohne Raum“ veranschaulichen und glaubwürdig erscheinen lassen.
Andere Wandbilder verdeutlichen die europäische Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit. Besonders die Furcht vor den asiatischen Völkern des Ostens und den Kräften des Islam fand in Schulwandbildern immer wieder ihren Ausdruck. An den Darstellungen des Hunneneinfalls aus den Jahren 1930 und 1957 zeigt sich, dass das Schüren von Fremdenangst (Xenophobie) und übertriebener Vaterlandsliebe (Chauvinismus) nicht nur typisch für die NS-Schulpolitik war. So stellt das Wandbild von 1930 die Hunnen als „Teufel in menschenähnlicher Gestalt“ dar und schildert detailgetreu ihre Gräueltaten.
Die Darstellung von 1957 verzichtet zwar auf diese Deutlichkeit, bemerkt aber im Bildkommentar: „Mongolenregimenter im deutschen Osten zeigen am deutlichsten die ungeheuere Gefahr, von der das Abendland auch heute wieder bedroht ist.“
Manche Wandbilder aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg lassen exemplarisch die Versuche erkennen, die Vorurteile wenigstens innerhalb der europäischen Völker abzubauen und ein gemeinsames Europa zu schaffen. Es werden die Anfänge der EU in Form der Montanunion, des gemeinsamen Marktes, der gemeinsamen Währung und Energiepolitik dargestellt. Bemerkenswert sind die in den Bildern enthaltene Aufbruchstimmung und der unerschütterliche Glaube an eine goldene, gemeinsame Zukunft. Freiheit, Frieden, Wohlstand und Arbeit für alle sollten durch die Gemeinschaft gesichert werden.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob und inwieweit sich die damaligen Vorstellungen heute erfüllt haben. So nannte man damals die beabsichtigte gemeinsame Währung Europino, ging in seinen Zielvorstellungen von den „Vereinigten Staaten von Europa“ in Anlehnung an den großen Bruder USA aus und sah in der Atomenergie die wirtschaftliche Rettung und Sicherung Europas gegen die Ölabhängigkeit.
Interessant war auch die deutsche Zielsetzung des Gemeinsamen Marktes. 1957 meinte die Europa-Bildzeitung: „Der Gemeinsame Markt fördert die Wiedervereinigung, indem die westeuropäische und westdeutsche Wirtschaft leistungsfähiger werden. Ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung des Kommunismus und jeder anderen Form totalitärer Regime ist die Hebung des Wohlstandes in der freien Welt. So trägt die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auf friedliche Weise zur Gewinnung der Freiheit in Osteuropa und zur Wiedervereinigung unserer Heimat bei.“
Bemerkenswert ist, dass in den Schulwandbildern dieser Zeit ökonomische und politische Themen im Vordergrund standen, soziale und kulturelle Bereiche sowie national-emotionale Egoismen aber kaum thematisiert wurden und somit eine umfassende Europaerziehung in den Schulen unterblieb.
Dazu schrieb Dr. habil. Walter Müller 1994 in dem Begleitheft zu einer Schulwandbildausstellung: Man versuchte nun (in den 70er und 80er Jahren) „verstärkt, auch mit Bildmedien, Fremdenangst und -feindlichkeit zu überwinden und globale Friedens- und Solidaritätsideen zu propagieren.“
Das Lohrer Schulmuseum im Ortsteil Sendelbach ist von Mittwoch bis Sonntag und an allen gesetzlichen Feiertagen jeweils von 14 bis 16 Uhr geöffnet. Gruppen können auch nach vorheriger Absprache außerhalb der regulären Öffnungszeiten das Museum besuchen; Kontakt: Eduard Stenger, Tel. (0 93 52) 49 60 oder Tel. (0 93 59) 3 17, E-Mail: eduard.stenger@gmx.net.