Neben dem Winter 1929 war der des Jahres 1962/63 einer der längsten und strengsten des 20. Jahrhunderts. In Franken war der Main, in Österreich die Donau, in der Schweiz der Zürichsee und Anfang Februar 1963 schließlich sogar der Bodensee vollständig zugefroren, was zuletzt 1880 passiert war.
In Lohr begann der Winter am zweiten Adventssonntag, 9. Dezember 1962, mit einem Wettersturz. Kirchgänger, die auf dem Weg zum Gottesdienst noch wenig Probleme hatten, fanden auf dem Heimweg die Straßen mit einer Schicht Glatteis überzogen vor. Zwar drehte der städtische Salzstreu-Lastwagen seine Runden, er konnte aber nicht überall gleichzeitig sein.
Am Nachmittag setzte dann ein Wintergewitter mit Blitz und Donner und heftigem Regen ein. Am 21. Dezember führte starker Schneefall zu erheblichen Verkehrsbehinderungen und zahlreichen Unfällen, glücklicherweise meist harmloser Art. An den beiden Weihnachtsfeiertagen wurden zwischen neun und 20 Minusgrade gemessen.
Warnung vor Gang auf das Eis
Der Main hatte erstmals seit 1956 eine fast geschlossene Eisdecke von der Quelle bis Aschaffenburg. Die Lohrer Zeitung warnte dringend davor, das Eis zwischen Sendelbach und dem Springerhof zu betreten. Dünnere Stellen im Eis seien nicht ohne weiteres zu erkennen und sehr gefährlich. Viele Jugendliche ließen sich allerdings durch solche Hinweise nicht davon abhalten, den zugefrorenen Fluss zu überqueren.
Für abgelegene Gemeinden wirkte sich der lange und strenge Winter besonders schlimm aus. So war Hofstetten, das über keine ausgebaute Straßenverbindung verfügte und nur mit der Fähre von Langenprozelten erreichbar war, durch die Eisbarriere wochenlang vom Rest der Welt abgeschnitten.
Auch die Fähre zwischen Erlach und Neustadt verkehrte ab Weihnachten nicht mehr. Hätten die in Erlach wohnenden Arbeiter nicht ohnehin Weihnachtsurlaub gehabt, hätte wohl mancher, der auf die Bahn von Neustadt aus angewiesen war, seinen Arbeitsplatz nicht erreicht. Ein Auto besaß damals noch nicht jede Familie und Busse verkehrten nur spärlich. Anfang Januar bildete sich zwischen Neustadt und Erlach eine feste Eisbrücke, die sogar zum Fußballspielen genutzt wurde.
Halsbach war wegen meterhoher Schneeverwehungen zeitweise nicht mehr erreichbar. Selbst Schneepflüge kamen dagegen nicht an. In Wiesen konnte nur mit Mühe wenigstens die Straßenverbindung nach Frammersbach freigehalten werden. Die Bahn hielt zwar ihren Verkehr in Nordbayern uneingeschränkt aufrecht. Die Reisenden mussten allerdings lange Verspätungen in Kauf nehmen.
Auf den Becken im Lohrer Schwimmbad hatte sich eine 35 Zentimeter dicke Eisschicht gebildet. Zwar waren die Becken durch Balkeneinlagen gesichert, aber um dem Eis die Spannung zu nehmen, musste rund herum immer wieder ein breiter Rand aufgehackt werden. Bademeister Fritz Volkert und zwei Helfer aus dem städtischen Bauhof hatten damit ständig alle Hände voll zu tun.
Prinz Philipp war zu Gast bei einer Treibjagd
Den Jägern machte der Winter wenig aus. Prinz Philipp, Herzog von Edinburgh, der Mann der britischen Königin Elizabeth, war der prominenteste Gast einer Treibjagd in den Bezirken Einsiedel und Diana, Neubau, Karlshöhe und Hubertus. Die 15 Schützen, die Fürst Karl zu Löwenstein eingeladen hatte, erlegten 53 Stück Wild: Keiler, Bachen, Rehwild und Hasen.
Einen Rodelwettbewerb der katholischen Jugend an der Hohen Bahn hatte Pfarrjugendführer Heribert Endres am 2. Februar ausgeschrieben. 140 Buben und Mädchen beteiligten sich daran. Die Lohrer Wasserschutzpolizei leitete am 11. Januar eine Lebensrettungsaktion für Blesshühner ein. Die Wasservögel hatten sich bisher durch ständige Bewegung ein Loch im Eis freigehalten.
Ein eisiger Wind hatte dann aber auch die wenigen freien Stellen zufrieren lassen und die Vögel auf das Eis getrieben, wo sie mit den Beinen und dem Gefieder buchstäblich festfroren. Weil die Eisdecke zu schwach war, um Menschen sicher zu tragen, legten die Beamten lange Leitern fast bis zur Flussmitte. Einer ging angeseilt über Leitern und Schollen, hackte mehrere Wasserlöcher frei und streute den Tieren Futter.
Polizeimeister Nitz löste etwa 20 angefrorene Vögel vorsichtig vom Eis und brachte sie in einem Korb zum Aufwärmen in das Maschinenhaus des nahen Sägewerks Mayer. Man befürchtete allerdings bei länger anhaltendem Frost eine Tiertragödie größeren Ausmaßes. Der Vorsitzende des Bayerischen Jagdschutz- und Jägerverbandes (BJV), Bezirksgruppe Lohr, Oberförster i. R. Batz, appellierte an die Jäger, angesichts der Not der Kreatur freiwillig die Jagd auf Wasserwild einzustellen.
Am Morgen des 3. Januar fiel noch einmal kräftig Schnee. Das Eis auf dem Main ging nur sehr langsam ab. Am Montag, 7. Januar, fuhr der in Aschaffenburg stationierte Eisbrecher "Von Pechmann" mainaufwärts bis Steinbach. Von Würzburg aus kam ihm am nächsten Vormittag der Eisbrecher "Arthur Kaspar" entgegen und am Nachmittag zusätzlich die "Frankenwarte".
Kaum ein Schiff wagte sich in die freigemachte Fahrrinne
Trotzdem wagte sich kaum ein Schiff in die freigemachte Fahrrinne, zumal die Meteorologen eine neue Kältewelle prognostizierten. Die Eisdecke auf dem Main wuchs von Bamberg bis´Aschaffenburg bis zur Monatsmitte auf 30 Zentimeter an.
Am 15. Januar führte erneuter Schneefall im Lohrer Raum zu einem halben Dutzend Unfällen. Glücklicherweise blieb es bei mehr oder weniger großem Sachschaden. Opfer eines tragischen Unfalls wurde am 18. Januar gegen 7 Uhr früh auf der Ortsstraße in Wombach ein 50 Jahre alter Elektriker, Vater von sieben Kindern. Sein Wagen war nicht angesprungen.
Ein VW-Fahrer versuchte, ihn anzuschleppen, hatte aber keinen Erfolg und erbot sich, einen Lastwagen herbeizurufen. Kurz darauf kehrte der VW zurück, kam aber auf der schneeglatten Straße ins Rutschen und prallte mit voller Wucht gegen den vor seinem Fahrzeug Wartenden. Der geriet zwischen die beiden Autos und starb auf der Stelle. Dies blieb glücklicherweise der einzige Unfall mit Todesfolge.
Beim Forstamt Ruppertshütten zwangen am 20. Januar anhaltende Kälte und hoher Schnee dazu, die Waldarbeiten einzustellen. Damit wurden 34 Waldarbeiter arbeitslos und der Arbeitslosenstand im Ort stieg auf 79. Während der Winterwochen hielt das Arbeitsamt seine Zahltage in der Ruppertshüttener Gemeindekanzlei, um den Betroffenen den weiten Weg nach Lohr zu ersparen.
Infolge der anhaltenden Kälte wurden Unmengen von Holz und Kohlen verfeuert, Streusalz und Sand verbraucht. Die Menschen atmeten schon auf, wenn einmal für ein paar Tage die Kälte bis auf minus acht bis fünf Grad nachließ. "Dar Winder könne mer geroet!" ("Auf diesen Winter können wir verzichten") zitierte die Lohrer Zeitung einen alten Lohrer.
Die Brennstoffe wurden knapp
Die Industrie- und Handelskammer erklärte, dass eine "momentane Notlage auf dem Gebiet der flüssigen und festen Brennstoffe" bestehe. Deshalb wurde eine Reihe von Transporterleichterungen zugelassen: Flüssige und feste Brennstoffe durften in jeder Größenordnung auch durch Fahrzeuge erfolgen, die sonst nur für den Nahverkehr zugelassen waren, sogar im grenzüberschreitenden Verkehr. Für den lebensnotwendigen Bedarf wurde auch der Einsatz von Bundeswehr-Fahrzeugen und solchen der amerikanischen Armee in die Wege geleitet.
In Lohr und in vielen Gemeinden kam es zu Versorgungsproblemen, weil Wasserleitungen zufroren. Trat dann Tauwetter ein, platzten die Leitungen. Dazu kam, dass viele Einwohner – vor allem dort, wo noch keine Wasserzähler eingebaut waren – das Wasser Tag und Nacht laufen ließen, um das Einfrieren zu verhindern. Die Folge waren leere Hochbehälter.
Die Feuerwehren warnten, weil im Brandfall die Hydranten nicht funktionierten und weil der Main, die Lohr und die Bäche zugefroren waren, stand vielfach auch diese Möglichkeit der Löschwasserentnahme nicht zur Verfügung. In Partenstein musste das Wasser rationiert werden. In bestimmten Ortsteilen stand Trinkwasser nur noch stundenweise zur Verfügung.
Katastrophenschutzeinheiten wurden aufgefordert, sich einsatzbereit zu halten
Die anhaltend grimmige Kälte veranlasste das bayerische Innenministerium und das Wasser- und Schifffahrtsamt wiederholt zu Warnungen vor einer bevorstehenden möglichen Katastrophe. Bei plötzlichem Tauwetter sei der teilweise metertief gefrorene Boden nicht in der Lage, die zu erwartenden Wassermassen aufzunehmen. Dazu komme die Gefahr von Eisstau auf dem Main.
Katastrophenschutzeinheiten, Bundeswehr und amerikanische Truppen wurden aufgefordert, sich einsatzbereit zu halten. Auch die Eisbrecher hielten sich für alle Fälle bereit. Die Hochwasser erfahrenen Bewohner des Lohrer Mainviertels gaben sich gelassen. Landrat Rudolf Balles und Regierungsrat Gerd Graf verwiesen auf das Warnsystem, durch das auf jeden Fall eine rechtzeitige Hochwasser-Vorhersage gesichert sei.
Die Lohrer Zeitung meldete am 18. Februar, dass wieder zwei Eisbrecher unterwegs seien: "Arthur Kaspar" näherte sich von Würzburg her und "Von Pechmann" von Aschaffenburg. Letzterer erreichte am 17. Februar gegen 17 Uhr Neustadt. Er fuhr bis Steinbach und dann zur "Nacharbeit" zurück nach Aschaffenburg. Die Eisbrecher im Kampf gegen den dicken Eispanzer waren für die Bevölkerung ein viel bestauntes Schauspiel. Es stellte sich heraus, dass die Schollen bis zu 50 Zentimeter dick waren.
Schnee und Eis schmolzen in den folgenden Tagen und Wochen so langsam, dass die befürchtete Hochwasserkatastrophe ausblieb. Die Schäden an Straßen, Wasserleitungen und anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen durch den Jahrhundertwinter waren allerdings riesig. Ihre Beseitigung nahm noch Monate in Anspruch und riss große Löcher in die öffentlichen und privaten Haushalte.