
Die wohl lebendigste Art, Geschichten miteinander zu teilen, ist das Erzählen. Davon konnten sich knapp 50 Gäste überzeugen, als Sabine Eckert vom Förderkreis Synagoge Urspringen zum kulturellen Abend "Erzähl mir das Paradies" im früheren Gotteshaus an der Judengasse begrüßte. Die professionelle Erzählerin Karola Graf aus Himmelstadt stellte mit musikalischer Begleitung der Würzburger Konzertharfenistin Anne Kox-Schindelin ein Kernstück jüdischer Tradition und Überlieferung vor.
Märchen, so meinen viele, seien eigentlich etwas für Kinder. Dabei sollten die Botschaften dieser von Generation zu Generation weitergetragenen Geschichten vor allem erwachsenen Menschen etwas sagen. Meist spielen Moral und Lebenserkenntnis in den unterhaltsamen Erzählungen die entscheidende Rolle. Dass dies im Judentum von der Antike bis in die Gegenwart eine besonders eindrucksvolle Ausprägung erfuhr, verdeutlichte Karola Graf mit kurzen Geschichten, die sie mit lebhafter Gestik und einfühlsamem Stimmcharakter ausdruckstark interpretierte.
Dabei wurden heitere, aber durchaus auch besinnliche Momente lebendig. Vor den Augen der Besucherinnen und Besucher traten Bilder aus längst vergangenen Tagen. Mit sehr kunstvoller, teils auch folkloristisch anmutender Musik unterstützten dies die virtuosen Zwischenspiele von Anne Kox-Schindelin auf ihrer Konzertharfe. Sanfte, fließend-warme Klangteppiche erfüllten stimmungsgeladen den Raum vor dem früheren Toraschrein. So entstanden auf wunderbare Weise Zeiträume zu Entspannung, innerer Vertiefung und eine emotionale Verstärkung des gerade Gehörten.
Karola Graf begann den Abend mit Geschichten aus der religiösen Tradition. "Die Geschichte von den Feigen" stammt aus der rabbinischen Auslegung religiöser Schriften, dem jüdischen Midrasch. Sie berichtet von angemessener Strafe für die Habgier eines nachbarlichen Zeitgenossen. Von vorbestimmtem Schicksal handelte ein Märchen aus der Zeit des weisen, biblischen Königs Salomo, in dem seine Tochter auch auf einer einsamen Insel mit der Hilfe eines großen Vogels ihren passenden Ehemann finden sollte.
Jüdische Gelehrsamkeit führte in einer Studierstube einen jungen Mann zu einem weisen Mädchen mit hässlichem Tiergesicht. Letztlich war es aber göttliche Fügung, die beide am Ende zusammenfinden ließ und die Dinge heilte. Ein Rabbiner erfuhr in einer weiteren Erzählung, dass der Himmel schon auf Erden darin besteht, füreinander einzustehen.
Im zweiten Teil des Abends führte Graf stärker in den Raum ostjüdischer Tradition und damit in Regionen, die aktuell in den Blickpunkt der Aktualität gerückt sind. In Ostpolen, der Ukraine oder der Bukowina lebte eine gemischtethnische und multireligiöse Bevölkerung, die seit jeher friedlich nebeneinander und miteinander lebte, wann immer dies die Mächtigen zuließen. Aus Krakau führte einen armen Rabbi der Weg ins ferne Prag unter die Karlsbrücke und zur Erkenntnis, dass sein wahrer Schatz eigentlich am heimischen Herd liege.
Ein jüdischer und ein schwäbischer Weinhändler betrieben ihre Geschäfte gemeinsam und bald musste der gierige Schwabe lernen, dass sich Habgier am Ende nicht auszahlt. Um Gottvertrauen und Frömmigkeit als Wegweiser im Leben ging es im Märchen "Morgen ist Morgen". Ein armer Flickschuster steigt durch seine Schläue am Ende zum Berater des Königs auf, weil ihm sein Glaube half, auch schwierige Situationen zu bestehen. Eine kleine Schnurre stand am Ende des Programms, als es dem armen Tunichtgut Schmil gelang, eine gutgläubige Gutsherrin um allerhand Besitz zu bringen.
Am Ende des Abends sollte eine einfache Erkenntnis bleiben: Wahrheit und Märchen gehen Arm in Arm durch unser Leben. Aber man hört die Märchen dann doch oft lieber als nur die nackte Wahrheit.