
Er hat drei Generationen Lohrer Kinder behandelt: Nach 36 Jahren hat der Lohrer Kinderarzt Jürgen Meßner seine Praxis zum 1. Januar an seinen Nachfolger Peter Gorth übergeben. Das ist keine Selbstverständlichkeit: 2020 schien es, als müsste Meßner mit seinem Eintritt in den Ruhestand die Praxis schließen. Ein Zeitungsartikel überzeugte den Nachfolger, Meßner hängte zur Einarbeitung anderthalb Jahre dran. Ein Gespräch über drei Jahrzehnte mit vielen Tausend kleinen Patienten und einen Abschied mitten in der Pandemie.
Im Computer haben wir über 20 000 Patienten, das System läuft seit 1996. Die Patienten aus den Jahren davor sind da nicht gezählt. Die Behandlungsfälle kann man gar nicht abschätzen.
Einige ja. Kinder verändern sich, wenn sie heranwachsen. Dann wird man sie vielleicht vom Physischen her nicht mehr kennen, aber vom Namen her doch. Patienten, die spezielle Krankheiten hatten, sind präsenter.
Es sind auch Enkel dabei, von den Patienten, die 1986 schon Jugendliche waren. Viele Eltern kommen mit ihren Kindern wieder her. Bei manchen erinnere ich mich noch, bei anderen schaue ich nach.
Ja. Unsere Gesellschaft hat sich geändert. Die Berufstätigkeit der Frau war, als ich anfing, noch gering. Damals waren die Mütter viel zu Hause, haben die Kinder betreut. Der Kindergarten war ab drei Jahren, mit ungünstigen Öffnungszeiten. Jetzt sind viele schon mit einem Jahr dort. Damit ändert sich das Spektrum der Erkrankungen, die Kinder sind in den ersten Kindergartenjahren häufiger krank. Dadurch ist oft die Forderung nach Freistellung von der Arbeit verbunden mit dem Besuch hier. Manche kommen nur deshalb, das Kind ist gar nicht so krank, dass es behandelt werden müsste.
Könnte ich nicht sagen. Auch die neuen Strukturen haben Vorteile. Manche Kinder sind offener, wenn sie frühzeitig schon Außenkontakte haben. Das ist individuell zu sehen. Gerade in den heutigen Kleinfamilien, die oft nur ein Kind haben, finden die Kinder so soziale Kontakt im frühen Alter. Insofern sehe ich das positiv.
Zwei, drei Kinder waren die Regel. Jetzt haben wir viele Einkind-Familien. Früher haben oft mehrere Generationen zusammengelebt, heute gibt es viele Patchworkfamilien und Alleinerziehende.
Ja, durch das Internet. Wenn man keine medizinische Ausbildung hat, kann man selbst oft schlecht einschätzen, was man da liest. Insofern ist es manchmal schwieriger geworden für die Eltern, die richtige Entscheidung zu treffen. In der Familie ist weniger Unterstützung, keine Großmütter mehr, die früher oft die Kinder miterzogen haben, Verantwortung übernommen haben, wenn das Kind krank war. Heute müssen die Mütter das oft alleine entscheiden. Das ist manchmal nicht so einfach, wenn man dann die Symptome im Internet eingibt und schwere Krankheiten auf der Liste bekommt.
Ja. Sicher auch gute Information, aber auch Verunsicherung, weil man vieles nicht richtig einordnen kann.
Die Zahl der fettleibigen Kinder ist auf jeden Fall angestiegen. Nicht so wie in Amerika, aber es ist schon zu beobachten. Dann die neuen Krankheiten, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme, psychische und psychosomatische Krankheiten sind heute im Vordergrund. Am Anfang waren das mehr die Infekte. Ich habe früher nie mit Eltern über Schulprobleme reden müssen. Das haben die Eltern mit den Lehrern ausgemacht. Jetzt werden diese Probleme verstärkt an uns Ärzte herangetragen, weil eben auch Folgen entstehen im somatischen Bereich. Vielleicht gehen die Menschen auch leichter zum Arzt als früher.
Sicher, das erfordert auch mehr Zeit, als wenn man einen Infekt untersucht. Wenn man erst die Vorgeschichte und die Zusammenhänge herausarbeiten muss, macht das einen Unterschied.
Die Anzahl Praxen war gleich. Die Anzahl der Kollegen hat zugenommen, weil mittlerweile Ärzte angestellt werden.
Jein. Die Zahl der Kinder ist insgesamt weniger geworden. In den letzten Jahren hat man den Eindruck, es geht wieder etwas bergauf. Wir haben eine stärkere Zuwanderung, da sind auch viele Kinder dabei. Früher haben viele Hausärzte die Kinder mitbetreut, vor allem auf dem Land. Das ist heute weniger, die haben mit den alten Menschen so viel zu tun, dass sie da gar keine Kapazitäten mehr haben. Insofern ist es ein Segen, dass ich einen Nachfolger gefunden habe, sonst hätte Lohr ohne Kinderarzt dagestanden. Die Verteilung der Kinder auf die anderen Praxen hätte nicht funktionieren können.
Häufig. Allein schon die Sprachschwierigkeiten. Dazu kommen Krankheiten, die früher nicht so präsent waren. Das familiäre Mittelmeerfieber, eine Erbkrankheit, zum Beispiel, hat man früher nur aus dem Lehrbuch gekannt und jetzt hat man eigene Fälle in der Praxis.
Einerseits mit der Medizin Schritt zu halten, andererseits, das in der Praxis umzusetzen. Die Verwaltung wird immer schlimmer. Es wird zwar immer gepredigt, es sollte alles reduziert werden. Es gibt inzwischen sogar eigene Stellen, die dafür sorgen sollen, was aber nicht funktioniert. Wir kriegen ständig neue Anforderungen. Das ist ganz anders geworden. Früher hatte man ein oder zweimal im Quartal Kontakt mit der KV, jetzt vergeht keine Woche, in der nicht etwas Neues kommt. Das ist gar nicht mehr möglich für einen Kollegen eine Praxis so zu übernehmen, wie ich es damals getan habe. Ich war eine Woche dort, dann habe ich die Praxis geführt. Das wäre heute undenkbar. Für die vielen Sachen, die dranhängen, braucht man lange, um das zu lernen. Es ist gut, dass Dr. Gorth schon über ein Jahre mit mir zusammengearbeitet hat. Da hat er viel von der verwaltungstechnischen Seite lernen zu können.
Nein, das kann man nicht. Ich hatte da tolle Hilfe von meiner Frau, die im Hintergrund die Verwaltung und die Rechnungen gemacht hat. Den ganzen Computerkram, da bin ich nicht so versiert. Sie hat sich da entsprechende Kenntnisse erarbeitet und mich sehr entlastet. Das kann man als einzelner nicht schaffen. Ich habe genug mit der Medizin und den Vorgaben der KV zu tun gehabt. Das hat für uns viel Spaß gemacht, weil wir gemeinsame Interessen und eine gemeinsame Betätigung hatten. Das ist interessant für eine Partnerbeziehung, wenn man gemeinsam das Ziel verfolgt, die Praxis gut zu führen.
Ja, natürlich. Das wird jedem Arzt passieren. Das versucht man zu minimieren, indem man gründlich ist und sich Gedanken macht über die Fälle, die etwas Besonderes sind. So lang keine gravierenden Schäden daraus entstehen, ist es nicht so belastend. Schrecklich wäre, wenn ein Kind dadurch zu Schaden käme oder gar sterben würde. Das ist in der ganzen Zeit, Gott sei Dank, nie passiert. Da kann man dankbar zurückblicken.
Nein, nie. Impfreaktionen sind normal, mit Schwellung, Rötung, Kopf- oder Gliederschmerzen. Nebenwirkungen im Sinne von ernsten, bleibenden Schäden hatte ich nie.
Die erste Zeit war chaotisch, ohne große Schutzvorrichtungen. Vieles, was wir machen mussten, war improvisiert. Wir haben den ganzen Praxisablauf umgestellt, versucht kranke und gesunde Kinder strikt zu trennen. Die Krankheit ist für uns auch eine Herausforderung, man lernt jeden Tag sehr viel Neues. Die Hoffnung ist, dass die Krankheit irgendwann so verstanden wird, dass wir damit leben lernen. Sie auszurotten, wie wir es momentan versuchen, wird uns nicht gelingen.
Nein, ich hatte keine, das ist im Kindesalter sehr sehr selten. Wir hatten positive Fälle, die teilweise nicht mal erkrankt waren, sondern zufällig bei Testungen erkannt wurden. Aber es waren trotzdem relativ wenige. Das ist gut an uns vorbei gegangen.
Da bin ich kritisch. Das ist eine neue Impfung, die wir jetzt genau ein Jahr kennen. Es ist eine neue Impftechnologie, die mit den anderen Impfungen nichts gemein hat. Die Aussage des Paul-Ehrlich-Instituts, dass alle Impfreaktionen innerhalb von vier Wochen nach einer Impfung auftreten, ist bei einer neuen Impfung nicht sicher zu sagen. Das zu behaupten, ist ein Wagnis. Ich würde mir wünschen, dass es so ist und nichts Neues hinzukommt. Wissen tun wir es nicht. Insofern ist immer die Vorsicht gegeben, besonders in der Kindermedizin. Das sind Menschen, die sich noch entwickeln, die durch die Infektion selbst gar keine große Krankheitslast haben, das wissen wir mittlerweile. Da muss man abwägen, wie bei jeder Impfung, zwischen Risiko und Nutzen. Je jünger die Kinder, desto vorsichtiger.
Das Problem ist, dass durch Politik und Medien viel Druck aufgebaut wird, auch auf die Ständige Impfkommission (Stiko). Das finde ich ganz schwierig. Das sollte eine rationale Entscheidung sein, mit einer guten Information. Die Impfung schützt vor schweren Verläufen. Da sind die Leute gefordert, die schwere Verläufe bekommen können. Das heißt, wir alten Menschen – ich bin geimpft, logischerweise, meine Familie auch – und die mit Vorerkrankungen. Da zählen auch die betroffenen Kinder dazu. Für die Gesunden muss man Risiko und Nutzen abwägen. Das kann jede Familie für sich sehen. Das ist eine Entscheidung, die die Eltern, ab einem gewissen Alter, mit den Kindern treffen. Von oben so einen Druck auszuüben, dass ein Kind ab 12. Januar nicht mehr in die Gaststätte gehen darf, wenn es nicht geimpft ist, halte ich für ein Unding.
Deswegen habe wir die Empfehlungen der Stiko, da kann man sich gut dran halten. Das sind Experten, aber die brauchen natürlich Zeit. Sie können nicht in drei Tagen entscheiden. Wenn die letztlich sagen, sie halten die Impfung generell ab fünf Jahren für so gut verträglich, dass es Sinn macht zu impfen, bin ich einverstanden. Ich bin Impfbefürworter. Aber ich bin kritisch im Hinblick auf den jetzt erzeugten Druck und auf die Tatsache, dass die Impfung doch etwas Neues, etwas anderes ist.
Hoch. Viel schöner wäre ein Einzelimpfstoff. Eine Ampulle aufmachen, verimpfen. Da könnte jeder kommen, der es braucht und man müsste nicht groß organisieren. Jetzt müssen wir bei der einen Impfung für sechs, bei der Kinderimpfung für zehn Impfdosen Leute anrufen. Das ist viel Arbeit für die Helferinnen und erfordert viel Zeit. Dann die Tatsache, dass man diese Einwilligung schriftlich benötigt. Die sind oft nicht richtig ausgefüllt, es fehlt eine Unterschrift… Das ist aufwendiger.
Soweit er es wünscht. Ich fühle mich ein bisschen wie ein väterlicher Freund. Wir verstehen uns sehr gut. Aber ich habe gesagt, die ersten drei Monate möchte ich in meinem Ruhestand ankommen. Dann stehe ich bereit, mal eine Praxisvertretung zu machen, so lange ich das gesundheitlich machen kann.
Ich werde mehr Zeit haben für die Familie, meine Enkel. Ich hoffe, dass ich die sportliche Aktivität hochfahren kann, ich habe seit zwei Jahren ein E-Bike, mit dem bin ich sehr viel im Wald. Ich möchte Reisen, wir haben immer sehr viele Reisen in der Familie gemacht. Wir sind begeisterte Skifahrer, das hat letztes Jahr gar nicht stattgefunden. Außerdem will ich wieder lesen, keine medizinischen Bücher, sondern Belletristik. Dazu hat mir Corona in den letzten Monaten gar keine Zeit gelassen.
Die lasse ich hängen. Ich finde das in der Kinderarztpraxis schön, wenn spontan gemalte Bilder an den Wänden hängen. Bis auf eines. Ich habe von einer ehemaligen Abiturientin ein schönes Porträt bekommen. Das nehme ich mit. Das ist ein schönes Andenken.