Es waren im Rückblick fast paradiesische Zeiten, damals, als er noch Marathon lief und bei der Feuerwehr aktiv war, denkt Andreas Ringling manchmal. Dann schaut er auf seine kleine Tochter. Und sagt sich: "Aber mein Leben ist jetzt." In seinem neuen Leben kann der 56-Jährige, der 2009 einen Schlaganfall erlitt und dadurch seine Sprache verlor, vieles nicht mehr. Doch er hat auch viel gewonnen. Betroffenen zu zeigen, dass das Leben trotz schwerer Krankheit lebenswert ist, dafür engagiert sich Ringling seit genau zehn Jahren.
Nein, es ist noch immer nicht alles okay, sagt der ehemalige Frammersbacher Feuerwehrmann, der 1997 nach Main-Spessart zog, wo er 15 Jahre lang lebte: "Doch ich habe inzwischen immerhin 70 Prozent meines Sprachvermögens zurückgewonnen". In der ersten Zeit nach dem Schlaganfall ging Ringling bis zu fünf Mal in der Woche zu einer Lohrer Logopädin, um das Sprechen zu üben. Heute kann er sich ganz gut artikulieren. Doch das Lesen und Schreiben fällt ihm noch schwer. Hürden stellen vor allem Doppellaute wie "sp" dar. Die Zeitung zu lesen, ist ihm ebenfalls noch kaum möglich: "Weil die Buchstaben so klein sind, erscheint es für mich so, als bewegten sie sich."
Anders als etwa bei einer Querschnittlähmung kann man sich bei einer Aphasie das, was man verloren hat, zumindest zum Teil wieder aneignen. Das erfordert jedoch äußerste Disziplin. Und es braucht Unterstützung. Die hatte Andreas Ringling von Anfang an gehabt. Direkt nach dem Schlaganfall, den er am 2. Mai 2009 beim Joggen auf der Herrmannskoppe erlitt, kam er in Lohr zunächst auf die Intensivstation und danach auf die neurologische Abteilung. "Sowie ich wieder Besuch erhalten durfte, kamen alle meine Kameraden von der Feuerwehr und vom Sportverein." Das ganze Dorf Frammersbach sei "super solidarisch" mit ihm gewesen.
Viele verstummen
Oft machen Aphasiker die Erfahrung, dass andere Menschen sie nicht für voll nehmen, weil sie stockend, verwaschen oder unter Verwendung falscher Wörter sprechen. Da drängt sich sofort ein unangenehmer Verdacht auf: "Der da ist bestimmt besoffen!" Viele Aphasiker verstummen deshalb. Andreas Ringling jedoch geht mit seinem Handicap offen um: "Muss ich irgendwo anrufen, etwa bei einer Versicherung, sage ich von vornherein, dass ich nicht betrunken bin, sondern wegen einer Aphasie nicht gut sprechen kann." Vor genau zehn Jahren begann der heute in Würzburg lebende Feinblechner, öffentlich auf das noch immer kaum bekannte Leiden "Aphasie"« aufmerksam zu machen.
Während anderen Aphasikern der Mut fehlt, alleine ein Restaurant zu besuchen und dort etwas zu bestellen oder in einer Bäckerei Brot zu verlangen, outete sich Andreas Ringling 2011 als Mensch mit Aphasie. Dies tat er bei einem Buchprojekt des Zentrums für Aphasie und Schlaganfall Unterfranken (AZU). "Schlagworte" nannte sich die Initiative, aus der ein großformatiger "Mutmach-Bildband" hervorging. Andreas Ringling berichtet in dem Band davon, dass ihm seine Krankheit Zeit für Neues schenkte. Er begann zum Beispiel zu malen. Durch die Aphasie lernte er seine Frau kennen. 2015 brachen die beiden zu einer Asienreise auf.
Schwierige Erkenntnis
An Tagen, wenn der graue Himmel ganz melancholisch macht, denkt Andreas Ringling an jene Augenblicke, wo er fast aufgeben wollte. Das, was er alles verloren hatte, schien ihm nicht mehr verkraftbar. War es doch nicht nur eine Qual, sich nicht mehr flüssig äußern zu können. Auch beruflich fasste er nie mehr Fuß. Gerade weil er selbst tief unten war, will er andere Betroffene ermutigen.
Das tut er zum Beispiel bei den "Würzburger Aphasie-Tagen" des AZU, die von jährlich bis zu 600 Betroffenen, Angehörigen und Therapeuten besucht werden. Ringling traute sich bereits dreimal, bei dem Kongress vor großem Publikum zu moderieren, trotz seiner sprachlichen Defizite. Es macht keinen Sinn, sich gegen das Schicksal zu stemmen, hat Andreas Ringling erkannt. Sich zu dieser Erkenntnis durchzuringen, ist allerdings gar nicht so einfach. Vor allem nicht für jene, die neu oder zum wiederholten Mal einen Schlaganfall erlitten haben.
Und das sind viele: In der Neurologischen Abteilung des Klinikums Main-Spessart werden jedes Jahr zwischen 500 und 600 Schlaganfall-Patienten behandelt. "Wir vom Zentrum für Aphasie und Schlaganfall betreuen derzeit etwa 300 Betroffene und Angehörige aus dem Landkreis", sagt Sozialpädagogin Ursula Peichl, die im AZU für Main-Spessart zuständig ist.
Betroffene und Angehörige, die über langjährige Erfahrungen mit Aphasie verfügen, engagieren sich im AZU in der Selbsthilfe. In Main-Spessart existieren zwei Selbsthilfegruppen in Karlstadt und Marktheidenfeld. Außerdem leitet Ursula Peichl in Gemünden eine Kommunikationsgruppe für Aphasiker. Wer Fragen zum Thema "Aphasie" hat, kann sich immer an das Team des AZU wenden. Peichl: "Wir helfen sozialrechtlich und bieten psychologische Beratung an." Auf dem Programm des Zentrums stehen außerdem Seminare und Freizeitangebote – jedenfalls zu normalen Zeiten. Pandemiebedingt fällt im Moment vieles flach.