Heinz Müller aus Wombach und Erich Enzmann aus Sackenbach haben von ihrem Heimatort Preßnitz im Erzgebirge nicht viel mehr als Erinnerungen und Fotos. Können andere Heimatvertriebene heute relativ problemlos an den Ort ihrer Kindheit reisen, dorthin, wo ihre Wurzeln sind, haben die beiden 80-Jährigen diese Möglichkeit nicht. Denn knapp drei Jahrzehnte nach ihrer Vertreibung 1946 wurden alle Gebäude gesprengt, und das ganze Städtchen versank in den Fluten eines Staudammes.
Sie waren kleine Jungen, wohnten beide in der Preßnitzer Kirchgasse, als am Faschingssonntag 1946 beim Mittagessen eine Kommission von Tschechen in der Straße von Haus zu Haus ging und den Bewohnern eine Stunde gab, ihr Haus zu räumen. „Sie dürfen 50 Kilogramm mitnehmen“, wurde ihnen gesagt. Ihre Straße war die erste, die „geordnet“ ausgewiesen wurde. „Ein schöner Faschingszug“, kommentierte Enzmanns Mutter lakonisch. Zuvor hatte es bereits Misshandlungen von Einwohnern durch Tschechen gegeben.
Zum Zeitpunkt der Vertreibung war es kalt und verschneit
Die Königlich Freie Bergstadt Preßnitz, etwa so groß wie Frammersbach, lag in einem Hochtal des Erzgebirges, nur fünf Kilometer von der Grenze zu Sachsen in Böhmen. Weil die Stadt so hoch lag, auf 720 Metern, gab es im Winter oft Massen an Schnee. Das war auch zum Zeitpunkt der Vertreibung der Fall.„Es war ekelhaft kalt“, sagt Müller. Nach einer Nacht im Schulgebäude ging es mit Pferdeschlitten in den Nachbarort Neugeschrei, ein paar Tage später mit Güterwaggons über Eger in die neue Heimat. Im Zug nahmen ihnen die Tschechen noch allen Schmuck ab. Manche waren kreativ beim Verstecken, aber wehe, jemand wurde dabei erwischt. Eine Frau, die später nach Lohr kam, bekam Schläge, weil sie ihren Schmuck nicht gleich herausrückte.
Wer konnte, hatte schon vor der Ausweisung Wertgegenstände ins nahegelegene sächsische Jöhstadt geschmuggelt. Da Preßnitz weithin bekannt für seine Musikanten war, waren unter den hinausgeschmuggelten Dingen oft Musikinstrumente und Noten. Enzmann erzählt, dass eine Gruppe Preßnitzer, die in Lohr sesshaft wurden, ihre Sachen später unter Lebensgefahr aus der sowjetischen Besatzungszone holte. Russische Grenzer hätten sogar geschossen, aber niemanden erwischt.
„Wir waren keine Flüchtlinge“
Nach Würzburg wurde dann bei jedem Halt ein Waggon mit Preßnitzern abgesetzt, die meisten landeten in Lohr, wo sie zunächst auf dem Gelände des BKH unterkamen. Enzmann erzählt, dass sie dann mit acht Personen, nicht nur die eigene Familie, zunächst in einem 25 Quadratmeter großen Raum in der Nähe des Bahnhofs hausten. „Wir waren keine Flüchtlinge, wir waren Heimatvertriebene“, sagt Heinz Müller.
In Lohr, das insgesamt 1800 Flüchtlinge aufnehmen musste, nicht nur die Sudeten aus Preßnitz, waren die Neuen zwar nicht unbedingt willkommen, aber dennoch wurde es zu ihrer neuen Heimat. In Lohr-Lindig gibt es auch eine Preßnitzer Straße, obwohl dort nicht unbedingt ehemalige Preßnitzer bauten. „Die ganzen Heimatvertriebenen sind zu 90 Prozent Mischehen mit Einheimischen eingegangen“, sagt Erich Enzmann. Auch er und Heinz Müller haben Frauen von hier geheiratet, er eine aus Partenstein, Müller eine aus Lohr.
Mit Deutsch als Muttersprache und derselben Bildung und Ausbildung wie die Einheimischen taten sie sich ungleich leichter bei der Integration als Flüchtlinge aus fremden Ländern. Vorsitzender Müller spricht heute Lohrerisch und ist als Turmwächter des Bayersturms bekannt.
Preßnitzer „Heimatstube“ neben der Lohrer Pfarrkirche
Weil in Lohr und Umgebung um die 200 der einst 4000 Preßnitzer eine neue Heimat fanden, wurde 1956 in Lohr der „Heimatverband der Preßnitzer“ gegründet, dessen erste und zweite Vorsitzende Müller und Enzmann sind. Als Ort der Erinnerung haben sie seit der Amtszeit von Lohrs früherem Bürgermeister Siegfried Selinger hinter der Sing- und Musikschule sowie der Kapuzinerkirche in einem kleinen Häuschen eine „Heimatstube“ mit Erinnerungsstücken eingerichtet, darunter eine Kopie der Madonna der Preßnitzer Stadtpfarrkirche.
Einer, der sich äußerst aktiv als Archivar im Heimatverband der Preßnitzer betätigt, stammt gar nicht von dort: Günther Schipper. Aber seine Frau ist Preßnitzerin. 1966, noch vor der Zerstörung der Stadt, kam Schipper selbst nach Preßnitz, seitdem mehrfach. Bekommt er ein neues Foto von der Stadt in die Hände, dauert es nicht lange und er kann jedes Haus einem von ihm erstellten Stadtplan zuordnen.
Sprengung der Stadt teil eines Spielfilms
Gerne wühlt sich das Mitglied des Lohrer Geschichtsvereins auch durch von den Tschechen digitalisierten Kirchenbüchern aus Preßnitz, wo ihn vor allem die Geburtsorte faszinieren. Der am weitesten entfernte war Nagasaki. Auch Ägypten ist darunter, weil Musiker aus der Stadt bei der Einweihung des Suezkanals dabei waren. Manche Preßnitzer durften – oder mussten – noch bis kurz vor der Sprengung der Gebäude in der Stadt bleiben. „Die hatten im Grunde genommen Pech“, sagt Enzmann, weil sie es in der Tschechoslowakei schlechter hatten als die Heimatvertriebenen in Lohr. Von der Sprengung der Gebäude 1973/74 gibt es sogar Videoaufnahmen, weil diese für den deutschen Spielfilm „Traumstadt“, 1973 gedreht, verwendet wurden.
Im Film sieht man schreiende Statisten von den einstürzenden Gebäuden wegrennen.
Wo einst Preßnitz lag, ist heute der Grund der Talsperre Preßnitz, eines 50 Meter tiefen Trinkwasserstausees. Dennoch sagt Enzmann, dass er jedes Mal, wenn er dort ist, sofort wieder das Gefühl habe, dass das Heimat ist. Schließlich stehen die Hausberge der Stadt ja noch, auch das außerhalb gelegene neue Forsthaus. Nur den Weg, den er als Kind hinauf zum Haßberg gelaufen ist und der noch da sein müsste, den sucht er seit Langem vergebens.
Von Tschechen immer gut aufgenommen
Alle zwei Jahre trifft sich der Heimatverband in Lohr. Kamen früher einmal 1000 Leute aus dem ganzen Kreis Preßnitz zusammen, waren es dieses Jahr nur noch 40. Vorsitzender Heinz Müller: „Der Zusammenhalt der Preßnitzer untereinander ist immer noch vorhanden.“ Von den nachfolgenden Generationen interessieren sich zwar nicht alle für die Wurzeln im Erzgebirge, aber das komme vielleicht mit dem Renteneintritt, Beisitzer Schipper, den der Preßnitz-Virus längst gepackt hat. Im Oktober waren die Lohrer Preßnitzer wieder zu Besuch in der Heimat, wo sie von den Einheimischen immer gut aufgenommen werden, erzählt Müller.