Als Karlstadter „Eingeborener“ bin ich eigentlich blind für das Besondere am Turmkaufhaus. Die mechanischen Kassen, die Preisschilder zum Reinstecken in die Leisten an den Regalen, die Kittelschürzen im Schaufenster – wäre da plötzlich etwas anders, es würde mich stutzig machen. Viel mehr interessiert mich, wie dieses Karlstadter Kaufhaus entstanden ist, das sich in mehr als 50 Jahren kaum verändert hat.
Inhaber Franz Stockleb (Jahrgang 1932) hat seinen Lebensmittelpunkt schrittweise immer mehr ins Zentrum dieses Turmkaufhauses verlegt. Hielt er sich früher vornehmlich im separaten Büro auf, so wechselte er vor einigen Jahren an die Theke hinten bei den Haushaltswaren. Seit einigen Monaten pflegt der 82-Jährige vorne in der Kurzwarenabteilung zu sitzen. Hier stehen sein Tischchen und sein Stuhl vor einem Regal. Wenn er nach der häuslichen Zeitungslektüre gegen 10.30 Uhr sein Kaufhaus betritt, haben seine Damen schon Kaffee gekocht und etwas vom Bäcker besorgt. Rechts auf seinem Tischchen liegt die Post.
Als ich zu ihm komme, ist er wie immer freundlich, aber zugleich reserviert. „Wir waren doch jetzt erst im Fernsehen“, wendet er ein, „kommen Sie doch in einem Jahr wieder.“ Dann wird er gnädiger: Im Herbst könne ein Artikel übers Turmkaufhaus in der Zeitung erscheinen. Schließlich finden wir einen Kompromiss: September – das ist auch schon fast Herbst.
Seine Heimat ist das böhmische Rumburg in der Nähe von Dresden. Heute gehört es zu Tschechien und ist Grenzstadt zu Sachsen. Dort hatte Vater Anton Stockleb drei Textilgeschäfte: eines für Mode, eines für Weißware und eines mit Resten. 1946 folgte die Vertreibung. Die Eltern kamen mit den Brüdern Anton (Jahrgang 1928) und ihm, dem 14-jährigen Franz, mit einem der ersten Transporte in den Westen. Aufnahme fanden sie beim Eußenheimer Pfarrer. Franz Stocklebs Bruder Anton, der bis zum vergangenen Jahr noch nachmittags im Geschäft präsent war, ist heuer an Ostern mit 85 Jahren gestorben.
Vater Anton eröffnete 1947 in der oberen Karlstadter Hauptstraße ein Textilgeschäft. Heute befindet sich hier das Schuhhaus Gaul. Schon 1950 verkaufte ihm die Erbengemeinschaft das Haus. Die beiden Söhne Anton und Franz lernten Einzelhandelskaufmann. Der ältere, Anton, bildete sich zudem für den Textileinzelhandel fort und übernahm folglich alles, was mit Stoff zu tun hatte. Franz Stockleb war für sämtliche andere Waren zuständig.
Die Brüder kauften 1960 das ehemalige sogenannte Spital am Katzenturm, in dem bis Mitte der 1950er Jahre Alte und Kranke gelebt hatten. Es folgten umfangreiche Umbauarbeiten. Mitten im Turmkaufhaus steht eine Reihe von Stützpfeilern. Bis hierhin reichte das Gebäude des Spitals. Im Erdgeschoss war der Speisesaal, oben die Zimmer. Das Kaufhaus wurde dorthin erweitert, wo zuvor der Hof und der Stall waren. Der Flachbau mit der Holzverblendung und dem Schriftzug „Turmkaufhaus“ war seinerzeit hochmodern.
Auch gab es von nun an eine Passage in Karlstadt. Zu jener Zeit fuhren die Autos und Lastwagen stadteinwärts unterm Katzenturm und stadtauswärts zwischen Turmkaufhaus und Katzenturm hindurch. Die Passage war ein sicherer Fußweg und lag verkaufstechnisch äußerst günstig.
Die Eröffnung 1961 bescherte Karlstadt ein zeitgemäßes Kaufhaus mit einem enorm breiten Sortiment und Arbeit für rund 30 Angestellte. Um Waren zu günstigen Konditionen einkaufen zu können, schlossen sich die Stocklebs gleich 1961 dem Kaufring in Düsseldorf an. Bald waren in Karlstadt türkisblaue Plastiktüten mit der Aufschrift „Kaufring“ zu sehen. Andere Kaufring-Geschäfte gab es beispielsweise in Lohr, Hammelburg oder mit dem Kaufhaus Michelbach in Gemünden.
Rückblickend sinniert Franz Stockleb: „Wir waren in Karlstadt nicht beliebt, weil wir nun all das unter einem Dach hatten, was es bis dahin in x kleinen Krämerläden gab.“ 2002 meldete Kaufring Insolvenz an. Seither ist das Turmkaufhaus beim Einkauf ganz auf sich selbst gestellt und ordert die Ware bei einer Vielzahl von Lieferanten.
Claudia Totzauer unterstehen die Schreibwaren. Margarete Sauer kümmert sich um Textilien, Kurzwaren und die Saisonartikel von Faschingshütchen über Blumensamen bis zu Silvesterknallern. Edith Köhler, die seit 1968 zum „Inventar“ des Turmkaufhauses gehört, hat den Bereich Haushaltswaren unter sich. Dazu gehören neben Geschirr auch Batterien, Fahrradteile, Spielzeug und die Anfertigung von Schlüsseln.
Einen Computer findet man in diesem Kaufhaus nicht. Die Bestellungen und alles, was zu so einem Laden gehört, werden per Hand erledigt. Seit einigen Jahren gibt es immerhin ein Telefaxgerät. Auch die Möglichkeit, dass Kunden mit der Kreditkarte zahlen, wurde erst eingeführt, als sich das System schon viele Jahre in anderen Geschäften bewährt hatte. Die Stechuhr ist seit ein paar Jahren kaputt. Die Stechkarten mit den Namen der aktuell sieben Angestellten stecken aber nach wie vor fein säuberlich in den Fächern.
Edith Köhler erzählt davon, dass es in den besten Jahren des Kaufhauses alleine vier Dekorateure gab. Auch kümmerten sich eigene Lageristen um den Warenbestand. Sie zeigt den weitläufigen Keller mit seinen Gewölben. „Die Regale hier waren alle voll“, berichtet sie. Heute lagern ein paar Packungen Glühbirnen und Gläser sowie Blumentöpfe im Keller, sonst nicht viel.
Über die Treppe geht es in den ersten Stock, wo in der Anfangszeit die beiden Brüder ihre Wohnungen hatten und wo später Textilien verkauft wurden. Inzwischen ist es hier fast leer, ebenso auf dem Dachboden. Nur ein paar unterschiedlich große, emaillierte Topfdeckel aus früheren Zeiten finden sich in einem der zahlreichen Regale.
Seit einigen Jahren schon ist das Kaufhaus übersichtlicher geworden. Die Regale sind nicht mehr so hoch und nicht mehr so dicht bestückt. Was bleibt, sind die vier Kassen, bei denen mit einem Hebel die Zehner- und die Einserbeträge beim Euro und noch einmal dasselbe beim Cent eingestellt werden. Ratsch, ratsch, ratsch, einmal an der Kurbel gedreht und schon schiebt sich der Zettel heraus, bereit zum Abreißen, und die Kasse springt auf.
Franz Stockleb kommentiert kurz und knapp: „Die Kassen sind gut.“ Und sollte doch einmal eine kaputtgehen, so sind noch sechs weitere auf Lager. Einige Kunden waren von diesen Ungetümen schon so fasziniert, dass sie diese am liebsten gekauft hätten. Die Mechanik in der Kasse addiert die Einkaufsbeträge bis zum Abend. Dann wird zurückgestellt auf Null. Und am nächsten Tage addiert die Kasse neu. Wie lange noch?