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Lohr
Trauer und Bestürzung: Die Menschen in Lohr versuchen, den gewaltsamen Tod eines 14-Jährigen zu begreifen
Die Stadt am Tor zum Spessart steht unter Schock: Der Lohrer Pfarrer Sven Johannsen appelliert an die Menschen, sich nicht Halbwahrheiten und schnellen Schlüssen hinzugeben.
Rund um das Schulzentrum haben Freunde, Verwandte und Passanten an mehreren Stellen Kerzen und Blumen niedergelegt, um an den Tod eines 14-Jährigen am Freitag zu erinnern
Foto: Patty Varasano | Rund um das Schulzentrum haben Freunde, Verwandte und Passanten an mehreren Stellen Kerzen und Blumen niedergelegt, um an den Tod eines 14-Jährigen am Freitag zu erinnern
Carolin Schulte
 und  Uli Sommerkorn
 |  aktualisiert: 15.09.2023 16:03 Uhr

Die Atmosphäre am Nägelsee-Schulzentrum in Lohr ist am Samstagmittag angespannt. Hier, wo am Freitagnachmittag mutmaßlich ein 14-Jähriger durch den tödlichen Schuss eines anderen 14-Jährigen ums Leben kam, haben sich am Tag danach Freunde und Bekannte versammelt. Viele haben Tränen in den Augen, trösten sich abwechselnd gegenseitig. Tauschen sich aus über ihre letzten gemeinsamen Erlebnisse mit dem Verstorbenen und über die Gerüchte, die im Umlauf sind – darüber, warum diese zwei Jungen sich genau dort trafen, warum einer von ihnen wohl eine Schusswaffe dabeihatte, und warum er sie mutmaßlich gegen seinen Mitschüler erhob.

Die Jugendlichen, die den Verstorbenen kannten, haben Blumen mitgebracht, Kerzen, Bilderrahmen mit Fotos. Doch sie dürfen nicht an die Stelle hinter der Schule, an der sich die Tat abgespielt haben soll. Während sie auf der einen Seite des von der Polizei angebrachten Flatterbandes trauern, suchen auf der anderen Seite Beamte des Landeskriminalamtes mit Hunden nach weiteren Hinweisen, Patronenhülsen zum Beispiel. 

Großer Medienrummel auf dem Schulgelände

Neben den Trauenden warten Vertreter der lokalen und bundesweiten Presse auf eine Erklärung von Polizeisprecher Enrico Ball. Kameraleute und Tontechniker haben ihr Equipment aufgebaut, sie halten drauf, wenn ein neuer Einsatzwagen vorfährt oder die Polizeihunde bei der Arbeit zu sehen sind. Die schrecklichen Nachrichten aus Lohr werden live vom Nachrichtensender n-tv übertragen. Die trauernden Jugendlichen hadern damit, dass sich plötzlich so viele Menschen für ihren verstorbenen Freund interessieren, obwohl sie ihn nicht kannten.

Die für 14 Uhr angekündigte Pressekonferenz verschiebt sich: Der Tatverdächtige habe mitgeteilt, wo die Tatwaffe zu finden sei. Wenig später finden die Beamten die Pistole in der Wohnung des Jungen. Gegen den mutmaßlichen Täter wurde ein Haftbefehl wegen Mordes erlassen, erklärt Ball schließlich vor vier großen Kameras. Der Verdächtige war der Lohrer Polizei bereits bekannt. Dass Drogen im Spiel waren, bestätigt Ball nicht. Auch sei das Dickicht hinter der Schule, in dem sich die Tat ereignete, nicht als Kriminalitätsschwerpunkt bekannt.

Tatort war wohl Rückzugsort für Jugendliche

In dieses Dickicht führt ein kleiner Trampelpfad. Folgt man der Spur aus leeren Flaschen, Getränkekästen und Fast-Food-Verpackungen, kommt man zu einer kleinen Lichtung. Hier steht ein alter Papierkorb, zur Hälfte gefüllt mit Scherben und an einer Seite verkohlt. Zwei Blecheimer stehen daneben. Vom Schulzentrum aus ist dieser Platz nicht einsehbar, von der angrenzenden Bundesstraße auch nicht. Ein McDonalds-Restaurant ist nur fünf Gehminuten entfernt. Der kleine Platz im Dickicht ist der ideale Treffpunkt für Jugendliche, die ihre Ruhe haben wollen. 

Bürgermeister Mario Paul appellierte an das Mitgefühl der Lohrerinnen und Lohrer.
Foto: Pia Bayer, dpa | Bürgermeister Mario Paul appellierte an das Mitgefühl der Lohrerinnen und Lohrer.

Dem Lohrer Bürgermeister Mario Paul geht die Situation sichtlich nahe. Am Vormittag gibt er vor dem Rathaus der Presse Auskunft zu der schrecklichen Tat, während nur drei Meter entfernt eine Rentnergruppe fröhlich eine Stadtführung genießt. Ihr scheint das historische Fachwerk, das Schneewittchen-Schloss und die gemütliche Atmosphäre im Altort zu gefallen. Vor dem Schloss macht ein Brautpaar Fotos.

Freunde des Opfers trauern am Tatort

Mario Paul nimmt die Stadt an diesem Tag anders wahr: Die Stimmung sei gedrückt, auch er sei fassungslos und geschockt gewesen, als er die Nachricht am Freitag von der Polizei erfuhr. Jeder in Lohr müsse sich nun in die Situation der Angehörigen hineinfühlen, es sei jetzt wichtig, nicht zu spekulieren oder sich von Vorurteilen leiten zu lassen. "Das Geschehene kann man nicht mit Worten erklären, aber das muss man jetzt auch nicht. Jetzt ist wichtig, dass wir Mitgefühl zeigen für die Familien, Freunde und Verwandten", sagt Paul.

Man dürfe jetzt nicht spekulieren oder sich von Vorurteilen treiben lassen. Als Vater wisse er, dass aktuell die Whatsapp-Gruppen in Lohr "heißlaufen". Für alle Schülerinnen und Schüler werde es in der kommenden Woche ein schwerer Schulstart nach den Sommerferien werden, so der Bürgermeister.

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Später am Samstag kommt auch er zum Nägelsee-Schulzentrum, begrüßt die Vertreter von Polizei und Presse. Dann setzt er sich zu den Jugendlichen, die immer noch darauf warten, ihre Andenken am Tatort ablegen zu können. Kerzen und Blumen sammeln sich inzwischen an einem anderen Platz auf dem Schulgelände. Professionelle Seelsorger sind ebenfalls vor Ort, kümmern sich um die Jugendlichen, die bis in die Abendstunden dort sitzen bleiben. Doch die Trauer, die Sorgen, die Wut, die können sie ihnen nicht nehmen.

Verein unter Schock: Der TSV Sackenbach sagt seine Fußballspiele ab

Groß ist die Bestürzung auch beim TSV Sackenbach, einem Lohrer Stadtteilverein. "Wir stehen alle absolut unter Schock", sagt TSV-Sportvorstand Ralf Stolle am Sonntag im Gespräch mit dieser Redaktion. Das Opfer war mit Spielern des Vereins aus dem Stadtteil verwandt. "Das Vereinsleben steht still. Wir haben erst einmal die Spiele abgesagt. In zwei Wochen haben wir Kirb. Aber ich habe heute noch keine Ahnung, wie wir dann damit umgehen." Es gelte nun, vor allem für die betroffenen Familien da zu sein.

Trost und Beistand finden die Lohrerinnen und Lohrer am Sonntag in der katholischen Stadtpfarrkirche St. Michael. Schon auf dem Kirchenplatz sind Kerzen aufgestellt. Auch der evangelische Pfarrer Michael Kelinske ist vor Ort. Im Gotteshaus können Trauernde ihre Gedanken in einem Buch eintragen. "Ich habe es erst nicht verstanden und dann hatte ich Angst", lautet der erste Eintrag. "Es ist furchtbar und uns fehlen die Worte", schreibt hier eine Person. "Meine Gedanken kreisen um die Mutter, den Vater und die Geschwister", schreibt eine andere.

Stille Anteilnahme: Vor der Stadtpfarrkirche in Lohr brennen Kerzen. Die Kirche ist am Sonntag ein Anlaufpunkt für alle Trauernden.
Foto: Roland Pleier | Stille Anteilnahme: Vor der Stadtpfarrkirche in Lohr brennen Kerzen. Die Kirche ist am Sonntag ein Anlaufpunkt für alle Trauernden.

Stadtpfarrer Sven Johannsen drückt das Entsetzen in einer öffentlichen Stellungnahme so aus: "Jetzt ist es hier geschehen in unserer kleinen Stadt, die mit Romantik und märchenhafter Idylle wirbt." Und weiter: "In diesem Ereignis werden wir niemals Sinn entdecken, aber möglicherweise bringt es uns zum Nachdenken darüber, wie wir solidarisch sein und jungen Menschen helfen können, ein Leben nach ihren Vorstellungen und Hoffnungen zu entwickeln." Er appelliert auch an die Menschen, kein vorschnelles Urteil zu treffen, sondern Polizei und Justiz arbeiten zu lassen. In diesem kritischen Moment gelte auch "das Gebot der Gerechtigkeit gegenüber dem Jungen, der unter Verdacht steht".

 
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