
Der „Todessprung“ von Werner „Garrincha“ Richter war in den 50er Jahren die Attraktion im Mittelsinner „Gasthaus zur Krone“. Sonntags nach dem Mittagessen stand das Publikum dicht gedrängt und forderte „Garrincha“ zu seinem waghalsigen Sprung auf. Der schwarz gelockte Künstler zelebrierte seine Vorführung regelrecht. Im Nebenzimmer wurde ein Fenster geöffnet, der Hasardeur reckte und streckte sich und sprang dann halsbrecherisch mit dem Kopf voraus zwei Meter in die Tiefe auf Tische und Stühle. An einem guten Tag ließ er sich, nachdem er sein Schmerzen mit etwas Bier betäubt hatte, sogar zu einem zweiten Sprung überreden.
„Garrincha“, benannt nach einem brasilianischen Fußballer, war einer der ersten Fußballspieler beim TV Mittelsinn. Dessen Fußballabteilung gründete sich 1956. Es wurde ein Erfolg: Drei Jahre später gelang schon der Aufstieg. Seit über 50 Jahren haben sich manche Fußballer aus den Anfangstagen der Fußballabteilung des TV Mittelsinn nicht mehr getroffen. Zur Mittelsinner Kirb am 3. August, 55 Jahre nach dem glorreichen Aufstieg der Fußball-Herren, kommt es zum ersten Wiedersehen der noch lebenden Veteranen, 13 an der Zahl. „Garrincha“ ist nicht mehr darunter.
„Trimm-Dich-Vater“ Richard Filippi, 72, der 1959, obwohl noch Jugendlicher, zum Meistermacher avancierte, blickt auf die legendären Anfangsjahre zurück. Nicht nur der „Todessprung“ ist ihm noch in Erinnerung. Jeder Spieler bekam damals von Richards Bruder Hermann einen eigenen „Künstlernamen“ verpasst. Neben „Garrincha“ jagten „Czibor“, „Hamrin“, „Schnorr“, „Zambocki“, „Pelé“, „Stani“, „Schanko“, „Ferdnand“, „Benthaus“, „Grillo“ und „Lichtl“ dem Ball hinterher, außerdem „Karlje“, „Eckje“, „Heinzje“, „Bossje“ und „Chefje“.
In Mittelsinn hat alles mit dem deutschen Weltmeistertitel 1954 begonnen. Richard Filippi weiß noch genau, wo er das Finale in Bern am Radio verfolgt hat. Dann ging es in Mittelsinn zunächst mit Straßenfußball in der Nähe der Linde los. Die ersten Bälle waren billige Gummiblunzen, die nach zwei Tagen platt waren, erinnert sich Filippi. Wie ein Lauffeuer ging irgendwann durchs Dorf, dass Ulli Ommert den ersten Lederball hatte.
Als die Straße zu klein war, ging es auf die nahe Etzwiese, wo der Ball von nachmittags an, bis es dunkel wurde, rollte. Weil Ulli Ommert eines Tages seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, versteckte sein Vater den Ball. Filippi schaute daraufhin bei Ommerts Eltern durchs Schlafzimmerfenster und entdeckte den Ball auf dem Schrank. Es wurde nicht lange gefackelt, der Ball wurde schließlich dringend gebraucht. Durch das gekippte Oberfenster ließ sich Ommert hineinheben und stapfte mit Gummistiefeln über das weiß überzogene Doppelbett der Eltern. Abends bekamen die Burschen von Ommerts Vater dafür den Hintern versohlt. „Der Ball war das Wichtige“, sagt Filippi rückblickend.
Vor Gründung der Fußballabteilung spielten täglich nach dem Mittagessen bis zu 40 junge Leute zwischen zwölf und 25. Als die Etzwiese zu klein wurde, wichen sie auf die untere Hofwiese aus. Richard Filippi war das Küken. Fußballschuhe hatten die Freizeitkicker damals keine, und die Tore wurden mit Jacken und Pullovern markiert. Auf der „Wiese“ ließen die Spieler kein Gras mehr wachsen.
1956 dann wurde die Fußballabteilung gegründet, neben der Herrenmannschaft gleich auch eine Jugendmannschaft aufgestellt. TVM-Vorsitzender war damals der rührige Karl Wendel. Gegen die drei Jahre lang ungeschlagene Rienecker Jugend siegten die Mittelsinner Burschen im Ligaspiel gleich mit 2:1. Die erste Mannschaft verlor zwar 0:2 gegen Rieneck – erwartet hatte man jedoch eine zweistellige Klatsche.
Trainiert wurden die Männer anfangs vom zweiten Abteilungsleiter Weitzel, einem Polizisten, der großen Wert auf Leibesübungen legte. Im zweiten Jahr übernahm das Training für zwei Jahre ein richtiger norddeutscher Oberligaspieler: Derk Ribbink von Eintracht Nordhorn, dessen Vater ein bankrottes Sägewerk in Mittelsinn erstanden hatte. Jetzt ging es auch um Balltraining. Die Jugend, im ersten Jahr von Johann Richter trainiert, übernahm Heinz Engelhaupt, der die Burschen dienstags hinter seinem Moped her nach Burgsinn laufen ließ. Das Training scheint nicht so schlecht gewesen zu sein. Aus der Jugend rückten immer wieder Spieler in die erste Mannschaft nach. Bei den Heimspielen war ganz Mittelsinn auf den Beinen.
Gleich in der ersten Saison spielten die Mittelsinner Herren 1957 gleich um den Aufstieg mit. In einem heiß umkämpften Auswärtsspiel gegen Sackenbach verloren sie jedoch durch einen strittigen Elfmeter kurz vor Schluss noch 1:2. Der Schiedsrichter aus Seifriedsburg, der im Mittelsinner Fanbus mit nach Sackenbach gekommen war, musste sich daraufhin eine andere Heimfahrgelegenheit suchen.
Mittelsinn wurden in der untersten Spielklasse zwei Jahre hintereinander Zweiter, bevor es wieder um den Aufstieg ging. Filippi, damals noch 17, durfte mit einer Ausnahmegenehmigung drei schwere Spiele mitmachen. Gegen den ärgsten Aufstiegskonkurrenten Adelsberg gelangen ihm beim 5:1 des TVM drei Tore. Der Aufstieg gelang. Noch größer war der Jubel 1961, als die Mittelsinner 3:2 gegen die gefürchteten Stettener um ihren Ausnahmestürmer Burkard gewannen. So kann Filippi, der seit 50 Jahren im Exil in Rieneck lebt, noch ewig aus diesen ersten Fußballjahren in Mittelsinn erzählen – wozu er am 3. August beim Wiedersehen mit den alten Recken jede Menge Gelegenheit haben wird.