Sechs Stunden hat sich das Landgericht Würzburg jetzt mit dem Fall von vier Leiharbeitern beschäftigt, die in Lohr (Lkr. Main-Spessart) zusammen wohnten. Auf der Anklagebank wegen versuchten Totschlags: Ein 35-Jähriger, der in einer Februarnacht plötzlich nach einem Schraubenzieher gegriffen und damit im Streit beinahe einen Landsmann getötet haben soll. Denn der Stich verfehlte laut Anklage nur knapp die Halsschlagader.
Die beiden 20 und 21 Jahre alten Mitbewohner, die dem 35-Jährigen die Waffe entwanden, kommen in Handschellen vor Gericht. Sie sitzen wegen eines späteren versuchten Tötungsdelikts vor einer Lohrer Kneipe in Untersuchungshaft und geben sich wortkarg. Das Opfer ist abgetaucht und erscheint trotz Ladung nicht in Würzburg.
Angeklagter gesteht und sagt: Der neue Leiharbeiter stiftete Unfrieden
Das macht dem Gericht die Wahrheitsfindung schwierig. Der Angeklagte gesteht unter Mitwirkung seines Verteidigers Martin Reitmaier die Tat unverblümt. Aber auf das "Warum" gibt es keine einfache Antwort.
In der Kindheit in Polen sei er von Verwandten schon mit zehn Jahren zum Mittrinken animiert worden, eine Scheidung habe er hinter sich. Der 35-Jährige sei ein mustergültiger Mitarbeiter gewesen, sagt der Chef. Er habe sich monatelang wohlgefühlt in der Wohngemeinschaft, weniger getrunken und andere Drogen konsumiert als in seiner Heimat, sagt der Angeklagte mit Hilfe eines Dolmetschers.
Als ein weiterer Landsmann kam, sei es binnen einer Woche vorbeigewesen mit dem friedlichen Miteinander. Der neue Mitbewohner habe den 35-Jährigen beschimpft, die Heizung aufgedreht und den Thermostat außer Funktion gesetzt. Zwei Tage vor dem Vorfall sei er mit zwei Messern wild herumfuchtelnd durch die Wohnung gerannt und habe ihn bedroht, schildert der Angeklagte.
Im Vorfeld Ärger - und dann ein Streit, der eskalierte
Der Vermieter bestätigt, dass der neue Leiharbeiter rücksichtslos gewesen sei. Auch bei der Fahrt mit der Bahn zur Arbeit habe es zweimal Ärger gegeben.
Der 35-Jährige ging dem neuen Mitbewohner aus dem Weg, zechte und spielte an jenem Abend des 25. Februar nicht an der Playstation mit, sondern zog lieber alleine in Lohr los. Als er, nicht mehr nüchtern, in der Nacht zurückkam, habe ein Wort das andere gegeben. Der Angeklagte sagt: Der Mitbewohner sei aufgesprungen, in Richtung eines herumliegenden Messers. Voller Angst habe er da zum Schraubenzieher gegriffen.
Er traf das Opfer am Hals, weitere Stiche und Hiebe gingen gegen Arme, Beine und Bauch, ehe ihm die anderen das Werkzeug aus der Hand rissen. Der Streit verlagerte sich vor die Haustür. Am Ende soll der attackierte Mitbewohner auf den am Boden liegenden 35-Jährigen mit den Fäusten ins Gesicht geschlagen haben.
Das Opfer wollte nicht in die Klinik - und verschwand
Das Gericht würde dazu gerne dessen Version hören. Als die alarmierte Polizei kam, hatte das Opfer schon geduscht und sich umgezogen, wollte in kein Krankenhaus und ließ sich nur widerwillig vernehmen. Wenige Tage später verschwand der Mann aus Lohr.
Laut seinem Verteidiger fühlte sich der Angeklagte beim Aufspringen des neuen Mitbewohners wohl an gewaltsame Übergriffe eines Onkels im Suff in seiner Kindheit erinnert. Er habe sich wehren wollen. Das Gericht berücksichtigt bei der schnellen Urteilsfindung, dass der 35-Jährige in der Tatnacht selbst 1,9 Promille hatte, in der Vergangenheit diverse Drogen konsumierte, vier Mal vergeblich zur Entgiftung war und eine Therapie abgebrochen hat.
Schnelles Urteil: Fünf Jahre Haft, aber ein letzter Akt der Gnade
Am Ende entscheidet das Gericht zügig auf eine fünfjährige Haftstrafe – und Gnade in letzter Minute: Der Angeklagte darf nach den sechs Monaten in U-Haft sofort in eine Entzugsklinik und könnte nach erfolgreicher zweijähriger Therapie dann nach Hälfte der Strafe entlassen werden.
Der 35-Jährige war damit wohl der letzte Verurteilte, dem das Landgericht Würzburg diese Chance gab: Zum 1. Oktober wurde das Gesetz verschärft. Künftig müssen auch bei erfolgreicher Entzugstherapie zwei Drittel der Strafe abgesessen werden.