Zweifellos sind die allermeisten Bewohner der Spessartgemeinden froh, dass sie im Jahr 2016 hier leben können und nicht rund 80 Jahre früher. Damals – Mitte der 1930er Jahre – hat der Schweizer Schriftsteller Jakob Schaffner das Buch „Offenbarung in deutscher Landschaft“ verfasst und dabei auch in einigen Kapiteln die Verhältnisse und das Alltagsleben im Gebiet zwischen Aschaffenburg und Lohr, Bad Orb und Wertheim beschrieben. Und diese Verhältnisse waren meist so, dass man sie heute als „menschenunwürdig“ bezeichnen würde. Jedenfalls nicht als „gute alte Zeit“.
Viele Menschen, die heute in den Spessartdörfern leben, können sich nur noch schwerlich vorstellen, unter welchen primitiven und ärmlichen Verhältnissen ihre Vorfahren leben mussten. Die Leute waren so arm, dass in den Kriegs- und Nachkriegsjahren mancher Bewohner auf den Spuren des bekannten Spessarter Erzwilderers Johann Adam Hasenstab wandelte und die Ernährung seiner Familie mit unerlaubter Wilddieberei sicherte. Und längst war die Lebenserwartung nicht bei 100 Jahren, wie sie Anna Maier aus Bischbrunn Ende 2015 erreicht hatte.
Wie in den Aufzeichnungen des Autors Jakob Schaffner spätestens nach dessen Besuch beim Bischbrunner Forstmeister und Geheimrat Hans Reder nachzulesen ist, war der Spessart schon damals zweigeteilt: „Im Süden sind es die Waldhufendörfer, die sich so stark vermehrt haben. Im Norden sind es die Glashüttendörfer. Der Wald war dahin, und die Glasbläserdörfer blieben bestehen – ohne Wald, ohne Ackerboden und ohne Arbeit. Die Not war so groß, dass viele nach Übersee auswanderten.“
Damals entstand auch der nach dem mainfränkischen Gauleiter benannte „Dr.-Hellmut-Plan“: Dieser sah für Spessart und Rhön vor: 1. Absiedlung nach anderen Gebieten; 2. Erschließung des Spessarts durch Verkehr; 3. Hebung des Kleinbauerntums; 4. Fremdenverkehr; 5. Waldrodungen, wo der Boden es zulässt, und Gründung von Erbpachthöfen; 6. Flurbereinigung durch Zusammenlegung der zerstreuten Besitze.
Zusammen mit dem damaligen Bischbrunner Forstmeister Hans Reder, der den Titel eines „Geheimrates“ für und während seiner Tätigkeit im Kaiserreich als Gouverneur der damaligen deutschen Kolonie Kamerun erhalten hatte, ging man daran, diese „Pläne zur wirtschaftlichen Hebung des Spessarts“ zu realisieren:
Der Wald westlich der heutigen Kreisstraße, die Bischbrunn mit der Staatsstraße 2312 (früher B 8) bei Straßlücke verbindet, wurde bis zur heutigen Waldgrenze Richtung Aschaffenburg gerodet. Eigentlich sollte die Fläche bis zum Forsthaus „Torhaus Aurora“ noch vergrößert werden. Aber der Beginn des Zweiten Weltkrieges stoppte die weiteren Planungen und deren Ausführungen. Das in Bischbrunn gerodete Waldstück trägt die Bezeichnung „Neuland“ und wird seither als landwirtschaftliche Fläche genutzt.
Aber wenn vor rund 80 Jahren das damalige Nazi-Regime mit den geschilderten verschiedenen Maßnahmen versucht hatte, die Not im Spessart zu lindern: Ganz ohne staatliche Absicherung lief das Verfahren nicht ab. Obwohl längst private Eigentümer die Flächen bewirtschaften, sie in das Flurbereinigungsverfahren einbezogen waren und teilweise mehrmals die Eigentümer wechselten, sind immer noch Grunddienstbarkeiten auf dem „Neuland“ zugunsten des Staates eingetragen.
Forstmeister und Geheimrat Hans Reder war am 12. Juli 1878 in Schöllkrippen geboren. Er starb am 4. Dezember 1961 in Kredenbach. Seine letzte Ruhe fand der Bischbrunner Ehrenbürger auf dem Friedhof Bischbrunn. Sein Grab wird noch heute von einigen Bischbrunner Frauen ehrenamtlich gepflegt. Sie wollen damit auch die Dankbarkeit für das Gute auch nach so langer Zeit ausdrücken, das der Geheimrat der einheimischen Bevölkerung getan hat.
Auch bei den Heimat- und Wanderfreunden im Spessartbund, Ortsverein Oberndorf-Bischbrunn, war Reder Ehrenmitglied. Ihm zu Ehren wurde der „Geheimrat-Reder-Weg“ durch den Wald von Bischbrunn bis Breitsol ausgewiesen. Im Wanderheim am Trieb erinnern noch einige Stücke an den Geheimrat Reder.
Besser wurde die wirtschaftliche Situation im Spessart erst mit dem Bau der Autobahn A 3. Schon beim Bau Ende 1950 bis etwa Mitte 1960 entstanden viele Arbeitsplätze. Aber noch wichtiger war die schnelle Anbindung an das Rhein-Main-Gebiet. Viele Arbeitnehmer konnten jetzt schnell per Omnibus oder später im Werksverkehr auf die Baustellen und zurück fahren. Umgekehrt nutzten viele Ausflügler an den Wochenenden die neue gute Verbindung in den ruhigen Spessart zur Erholung.
Die Strecke von Brüssel über Frankfurt, Nürnberg bis Prag erhielt eine große Bedeutung. Zwar gab es bereits mit der erstmals 839 erwähnten „Via Publica“ und den späteren Poststraßen wichtige Verkehrsverbindungen durch den Spessart. Wirtschaftlich interessant mit der Schaffung von Arbeitsplätzen wurde es vor allem an den an der Autobahn gelegenen Ortschaften wie Weibersbrunn oder Altfeld.
Zwischenzeitlich hatten auch zahlreiche größere und kleinere Kleiderfabriken für eine bessere Beschäftigung in vielen Spessartgemeinden gesorgt. Aber diese waren nur eine Zeiterscheinung, denn sehr schnell war die preisgünstige Konkurrenz vom Balkan und anderswo im Vorteil.
Heute ist zum Glück von der vor 80 Jahren beschriebenen Armut im Spessart so gut wie nichts mehr übrig geblieben. Die spärliche Landwirtschaft mit den durch die Kurmainzer Realteilung aufgesplitterten kleinparzellierten Grundstücken hat praktisch keine Bedeutung mehr.
Reichte die kleine Gemarkung früher nicht, um ihre Bewohner zu ernähren, werden heute die Flächen an Bauern verpachtet, die teilweise 20, 30 und mehr Kilometer Anfahrt haben und vom Staat mit diversen Prämien zur Bewirtschaftung animiert werden.
Nur durch Kulturlandschaftsprogramme (KuLaP) und ähnliches werden Anreize geschaffen, um die Spessarttäler vom Bewuchs freizuhalten. Der „Naturpark Spessart“ dient immer mehr für Freizeit und Erholung, dem Schutz wichtiger Trinkwasservorkommen und als Holzlieferant. Deshalb werden die heutigen Spessartbewohner – in Kenntnis der sehr schlechten Zeiten ihrer Vorfahren – mit dem Erreichten weitgehend zufrieden sein. Die „gute alte Zeit“, wie sie Jakob Schaffner vor rund 80 Jahren beschrieben hat, wollen sie jedenfalls nicht zurück.