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LOHR
Spektakuläre Flucht nach Lohr
Sie waren tagelang das Gespräch in Deutschland und beherrschten die Bild-Schlagzeilen: Die Rede ist von dem ehemaligen Unternehmer Walter Hunger samt seiner 22 Angestellten, denen am 22. September 1958 eine abenteurerliche Flucht von der ehemaligen DDR in den Westen gelang.
Walter Hungers spektakuläre Flucht in den Westen beherrschte 1958 tagelang die Bild-Schlagzeilen. Mit von der Partie waren damals seine drei Kinder (von rechts): Armin, Gisela und Ingrid Hunger sowie sein ehemaliger Prokurist Günter Kohl (Zweiter von rechts) samt Sohn.FOTO K. SCHWENDINGEr
| Walter Hungers spektakuläre Flucht in den Westen beherrschte 1958 tagelang die Bild-Schlagzeilen. Mit von der Partie waren damals seine drei Kinder (von rechts): Armin, Gisela und Ingrid Hunger sowie sein ehemaliger ...
Von unserem Redaktionsmitglied KATHARINA SCHWENDINGER
 |  aktualisiert: 22.09.2008 18:06 Uhr

Walter Hungers überaus erfolgreicher Privatbetrieb in Frankenberg (Sachsen), der bereits 1949 auf dem Weltmarkt agierte und in 15 Länder exportierte, war dem DDR-Regime ein Dorn im Auge. In der Firma, die damals schon rund 1000 Mitarbeiter beschäftigte und über ein Betriebsvermögen von rund fünf Millionen Ost-Mark verfügte, wurden Schwerlast-Anhänger, Tieflader und hydraulische Kippaufbauten gefertigt.

Dem „Kapitalisten“ Hunger wollte man den Garaus machen; deswegen sollte sein Betrieb, so schnell es ging, verstaatlicht werden. „Der Name Hunger wird nicht mehr lange über dem Werkstor prangen“, hatte es geheißen, erinnert sich der 83-jährige Günter Kohl, einer der engsten Vertrauten Hungers, bei seinem Besuch in Lohr. Das wollte und konnte sich Walter Hunger nicht bieten lassen. Unter größter Geheimhaltung plante der damals 33-Jährige mit seinem fünfköpfigen Führungsteam, darunter Kohl, die Flucht in den Westen. „Es war ein einziger Krimi“, sagt seine Tochter Gisela, damals sieben Jahre alt. Der Vater war unter einem Vorwand nach München gereist, um dort Patente anzumelden.

Flucht war von Geburt abhängig

Den Chauffeur hatte er beauftragt, seine Frau Marianne und die drei Kinder Armin, Gisela und Ingrid nach Berlin zu bringen. „Zieht Euch warm an“, hatte die Mutter gesagt, erinnert sich Gisela Hunger-Köfer (57), heute Hoteli?re in Österreich. Sohn Armin (damals elf) merkte schnell, dass die Mutter geflunkert hatte, als sie von einem Ausflug ins Erzgebirge erzählt hatte. „Als ich sie im Auto darauf ansprach, sagte sie, dass es nach Berlin zur Funkausstellung gehe.“

Ingrid Hunger, heute Geschäftsführerin der Walter Hunger KG Lohr und damals mit fünf Jahren das „Nesthäkchen“ in der Familie, erinnert sich noch an die U-Bahn-Fahrt von der Friedrichstraße über die Grenze zum Leopoldplatz. Von da aus ging es weiter an den Flughafen Tempelhof, wo sie sich mit ihrem Vater und den 22 Angestellten trafen. Jeder war für sich angereist, nur Prokurist Kohl und seine hochschwangere Frau Christa samt Sohn Christian (4) waren bereits eine Woche früher am Tempelhof. „Sie war die Heldin in der Geschichte“, sagt Günter Kohl heute noch über seine vor drei Jahren verstorbene Frau. Die ganze Flucht hatte sich nach dem Zeitpunkt ihrer Geburt gerichtet. Es ging alles gut, seine Frau überstand die nervliche und körperliche Belastung und brachte zwei Tage nach der Flucht ihren Sohn Detlef zur Welt.

Die Vorbereitungen für die „Umsiedlung“ waren aufregend genug: Man testete genau die Fluchtstrecke, einer fuhr voraus und zurück, erzählt Kohl. Eine Szene wird in der Bildzeitung vom 27. September 1958 beschrieben: Es ging darum, wie wichtige Firmen-Dokumente in den Westen geschmuggelt wurden. Einer der Flüchtenden sitzt in der S-Bahn. Ein anderer steigt hinzu, mit einem Koffer in der Hand. In der Grenzstation, noch im Osten, verlässt er die Bahn. In dem Koffer sind wichtige Papiere, Pläne, Konstruktionszeichnungen. Als er aussteigt, ruft jemand: „Hallo, Sie! Sie haben ihren Koffer vergessen!“ „Ist schon gut“, sagt der Mann und läuft einfach weiter. Auf der ersten Weststation will sein Kollege, der verabredungsgemäß schon in der Bahn gesessen hatte, den Koffer übernehmen. Da kommt Protest der Mitreisenden. Der Koffer wandert schließlich ins Fundbüro und wird später von einem Hunger-Angestellten abgeholt. Die meisten Dokumente landeten so sicher im Westen, sagt Ingrid Hunger.

Über Hannover fahren die insgesamt sechs Familien dann in den Spessart. Sie beziehen eine winzige Wohnung in Partenstein. „Wir haben auf engsten Raum gewohnt“, erinnert sich Christian Kohl. Dass Lohr nun ihre neue Heimat ist, liegt an den guten Kontakten zwischen Walter Hunger und dem damaligen Unternehmer Roman Sauer. Als Sauer sich jedoch nicht an die vereinbarten Konditionen hält und drei Hunger-Leute vom Führungsteam abwirbt, kommt es zum Bruch. Mit Hilfe von Rexroth gründet Walter Hunger schließlich sein eigenes Unternehmen.

Die Flucht ins Ungewisse rechnen alle drei Hunger-Kinder ihrem Vater, der aus gesundheitlichen Gründen nicht beim Treffen anwesend sein konnte, hoch an. „Es war der richtige Schritt“, sagt sein Sohn Armin, der heute eine Hunger-Firma in Toledo-Ohio in den USA leitet.

 
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