Die tödliche Gewalt, die mutmaßlich ein 14-Jähriger einem gleichaltrigen Mitschüler in Lohr antat, hat viele Menschen betroffen gemacht. Beide Jugendlichen gingen auf die örtliche Mittelschule, die Tat fand im September kurz vor Ende der großen Ferien auf dem Schulgelände statt. Sven Amend betreibt in direkter Nachbarschaft sein Fitness- und Boxcamp. Bereits kurz nach der Gewalttat stand für den 47-Jährigen fest: "Man darf auf keinen Fall wieder zum normalen Alltag zurückkehren. Es muss was passieren, dass so was nicht mehr passiert."
Der einstige Weltklasse-Thaiboxer Amend weiß, dass kein Kampf durch Nichtstun gewonnen wird. Deshalb schloss er sich mit dem Lohrer Rapper und Jugendarbeiter Sebastian Czyszczon zusammen, um ein Konzept zur Gewaltprävention zu entwickeln. Den ersten Workshop dazu haben die beiden im November an der Lohrer Mittelschule vor knapp 90 Schülerinnen und Schülern der 5. und 6. Klassen gehalten.
Als Verstärkung nahmen sie den 88-jährigen Boxer Erwin Leuschner mit, der laut Amend täglich zuhause und dreimal die Woche im Boxcamp trainiert. "Ich habe ihn als lebendes Beispiel dabei gehabt, dass man, wenn man sich aktiv und fit hält, nach hinten raus noch Lebensqualität hat und sich auf den Tag freut", erläutert der Fitnesstrainer.
Workshop beginnt mit Action
Die eineinhalbstündige Veranstaltung in der Schulturnhalle begann dann auch nicht mit drögen Vorstellungsrunden, sondern mit viel Action: Während Sebastian Czyszczon, genannt Seba, seinen Song "Wille" live rappte, machten Amend und Leuschner Schattenboxen. "Da war die Stimmung direkt aufgeheizt so früh am Morgen", erzählt Seba vergnügt beim Telefonat mit der Redaktion. Seine Motivation für das Programm hat der 32-Jährige auch den Schülern gegenüber betont: Er und Amend wollen sich für die Jugend einsetzen, weil sie der Meinung sind, dass zu wenig getan werde.
Dabei beziehen sie die jungen Teilnehmer auf Augenhöhe mit ein: Beim Tauziehen gegen den durchtrainierten Thaiboxer sehen die Stärksten alleine kein Land. Wenn aber viele gemeinsam anpacken, hat selbst Sven Amend keine Chance. Im Hintergrundgespräch erklärt der 47-Jährige, wie Sport und Bewegung helfen können, um Aggressionen zu vermeiden. "Jeder Mensch funktioniert gleich: Leben ist Bewegung, Bewegung ist Leben", betont er.
Die heutige Jugend bewege sich zu wenig, weil sie zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbringe, findet Amend. Das führe zu einer innerlichen Unruhe. "Wenn man sich mit Bewegung auspowert, ist man ausgeglichener", erklärt der gebürtige Gemündener. In seinem Fitnessstudio betreut er zwischen 15 und 20 Kinder im Alter von sechs bis neun Jahren bei "Fit for Kids". Zwölf bis 15 Jugendlichen im Alter zwischen zehn und 15 Jahren bringt er klassisches Kickboxen bei.
Wichtig ist ihm dabei, dass "Kickboxen ein Sport ist und kein Sich-Aufrüsten für draußen". Er versucht nach eigener Aussage zu vermitteln, "dass Stärke darin liegt, dem Schwächeren zu helfen und nicht gegen Schwächere zu gehen". Mit anderen zu trainieren, schult die Teamfähigkeit, auch wenn jeder später im Ring auf sich allein gestellt ist. Ohne Trainingspartner können sich Sportler nur schwer weiterentwickeln. "Es spielt auch eine Rolle, dass man sich auch mal unterordnen kann, wenn der Trainer was sagt", erläutert Amend.
Die erste Zeit nach der von der Staatsanwaltschaft als Mord eingestuften Tat am Nägelsee-Schulzentrum habe die Nachfrage nach Selbstverteidigungs- und Kampfsportkursen laut Sven Amend zugenommen. Schon vorher hat der 47-Jährige Mobbing und Aggressionen unter Kindern und Jugendlichen als "deutschlandweites Gesellschaftsproblem" ausgemacht. Einige Kinder würden auch deshalb bei ihm trainieren, um mehr Selbstbewusstsein zu bekommen.
Den hohen Medienkonsum, die Selbstdarstellung auf sozialen Medien und den ständigen Zugang zu allen möglichen Inhalten im Internet über das Smartphone sieht Sven Amend kritisch. "Wenn das nicht gesperrt ist, haben die Kinder Zugriff auf Pornos und reale Gewalt – einfach auf alles", betont er. Auf Instagram gehe es oft nur darum, sich selbst als perfekt zu präsentieren. Fehler wolle keiner mehr haben, machen oder zugeben.
"Früher wollte man auch cool sein, hat aber eher mit dem BMX Kunststücke gemacht oder ist besonders ausgefallen vom Dreier im Schwimmbad gesprungen" erzählt der 47-Jährige. Damals habe man andere mit sportlicher Leistung beeindrucken wollen, heute gebe es stattdessen oft nur hohles Imponiergehabe, meint Amend.
Das bei Jugendlichen immens populäre Videoportal TikTok ist perfekt darin, die Nutzer immer wieder mit neuen Kurzvideos zum Dranbleiben zu bringen. "Diese Reizüberflutung hat einen massiven Einfluss aufs Gehirn", vermutet Amend. Er beobachtet das auch häufig, wenn neue Jugendliche bei ihm mit dem Training anfangen. "Die sind teils sehr verträumt und unaufmerksam. Wenn etwas nicht gleich läuft, werden sie impulsiv", berichtet er. Es sei oft aufwendig, Jugendliche dazu zu bringen, an etwas dranzubleiben und sich darauf zu konzentrieren. Der Lohrer betont aber auch, dass es Jugendliche gibt, "die eifrig dabei sind und Lust auf Kickboxen haben".
Schulsport im Boxcamp
Sven Amend arbeitet nicht erst seit der Gewalttat mit der Lohrer Mittelschule zusammen: Bereits im vergangenen Schuljahr machte eine 6. Klasse ihren Sportunterricht regelmäßig im Boxcamp. Das lief so gut, dass die Aktion auch dieses Schuljahr weiter geht. Im November fiel nun auch der Startschuss mit dem ersten Workshop an der Lohrer Mittelschule, der ein weiterer Baustein des dort bereits bestehenden Sozialkompetenztrainings ist.
Im Januar folgt die Auftaktveranstaltung von Seba und Sven für die 7. und 8. Jahrgangsstufe der Gustav-Woehrnitz-Mittelschule. Schulleiterin Susanne Rinno ist es wichtig, dass das Programm nachhaltig wirkt und keine Eintagsfliege ist. Sie spricht von einem "langfristigen Angebot, das die Schüler mindestens ein Schuljahr lang begleitet und aus dem sich Workshops ergeben, die dann spezifisch Sport und Musik mit Grenzen erfahren verbinden".
Aktuell erarbeiten Sebastian Czyszczon und Sven Amend dieses nachhaltige Konzept. Beide sind motiviert, dazu beizutragen, dass sich solch extreme Ausbrüche von Gewalt wie im September niemals wiederholen. "Wenn man präventiv vorgeht, kann man nicht alles, aber vieles verhindern", ist Czyszczon überzeugt, der als Pädagoge an der Montessori-Schule in Wombach arbeitet.
Mit vielen Fragen haben die beiden Workshop-Leiter die Fünft- und Sechstklässler zum Nachdenken gebracht. Dabei ging es um die Zeit, die die Kids am Smartphone verbringen, aber auch darum, wie sie auf Beleidigungen reagieren. "Viele kamen mit der Ehre. Wenn die Familie beleidigt wird, muss man mit Gewalt antworten", erzählt der 32-Jährige. Daraufhin haben die beiden darüber gesprochen, ob man Konflikte nicht auch anders lösen kann und was alles passieren kann, wenn man jemanden schlägt.
"Wir haben darüber sehr intensiv gesprochen. Das war auch sehr konstruktiv", resümiert Seba. Er sagt aber auch, dass er gemerkt habe, dass solche Gespräche "bitterlich nötig" gewesen seien. Und da die zwei nicht nur Theoretiker, sondern vor allem Praktiker sind, hat Sven Amend den Schülern noch einige Handgriffe zur Selbstverteidigung demonstriert. "Ich habe gezeigt, wie man mit einer blitzschnellen Handbewegung aus dem Griff herauskommt, um dann die Flucht zu ergreifen", erklärt der 47-Jährige.
Wer sich Kickboxkämpfe aus Amends aktiver Zeit anschaut, sieht, wie offensiv er dabei zugange war. Jetzt konzentriert sich der Lohrer gemeinsam mit seinem rappenden Mitstreiter auf den Kampf gegen Gewalt unter Kinder und Jugendlichen. Dafür sollte man ihnen einen lange wirksamen K.O.-Sieg wünschen.