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Wiesenfeld
Sex-Expertin im Kino: Wie die Nazis Ruth Westheimers Kindheit beendeten
Die ersten zehn Jahre ihres Lebens verbrachte die in den USA lebende Sex-Therapeutin Ruth Westheimer in Wiesenfeld (Lkr. Main-Spessart) und Frankfurt. Dann kamen die Nazis.
Ruth Westheimer kam im Karlstadter Ortsteil Wiesenfeld zur Welt. Die 92-Jährige hat mehr als 30 Bücher über Sex geschrieben. Jetzt kommt ein Film über ihr Leben ins Kino.
Foto: Philipp Hedemann | Ruth Westheimer kam im Karlstadter Ortsteil Wiesenfeld zur Welt. Die 92-Jährige hat mehr als 30 Bücher über Sex geschrieben. Jetzt kommt ein Film über ihr Leben ins Kino.
Klaus Gimmler
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:06 Uhr

Ruth Westheimer ist eine außergewöhnliche Frau mit einer außergewöhnlichen Biografie: Die heute 92-Jährige überlebte als Jüdin den Holocaust in der Schweiz und immigrierte anschließend nach Amerika, wo sie zu einer der bekanntesten Sex-Therapeutinnen der USA wurde. Ihre Geschichte erzählt sie in dem Film "Fragen Sie Dr. Ruth", der jetzt in den deutschen Kinos anläuft. Geboren wurde sie als Karola Ruth Siegel in Wiesenfeld (Lkr. Main-Spessart). Welche Erinnerungen hat Ruth Westheimer an ihre Kindheit in Unterfranken? In ihrer Biografie "All in a lifetime" blickt sie auf ihre ersten zehn Lebensjahre zurück.

Ihr Vater wurde in Ausschwitz ermordet

Es ist früh am Morgen im November 1938. Ruth Westheimer beginnt ihre Biografie mit dem Trauma ihres Lebens. Sie erzählt, wie es an der Tür ihrer Wohnung in Frankfurt klopft. Es treten mehrere große Männer mit glänzenden Stiefeln ein. Die Männer fordern den Vater auf mitzukommen. Sie und ihre Mutter weinen, doch man sagt ihnen, dass sie still sein sollen. Sie blickt aus dem Fenster und sieht ihren Vater, wie er in einen großen Wagen steigt, in dem schon mehrere Männer sitzen. Er dreht sich noch einmal um, versucht ein Lächeln, das ihm misslingt, und winkt. Sie sieht ihren Vater nie wieder.

Ruth Westheimer beschreibt die Männer, die ihren Vater geholt hatten, als höflich. Es gab kein Schlagen, niemand war brutal. Ihre Großmutter hatte den Männern sogar ein bisschen Geld gegeben mit der Bitte, ihn gut zu behandeln. Der Mord an den Juden – sie erlebt diesen als Verwaltungsakt. Ihr Vater wurde zunächst ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht, später in Ausschwitz ermordet. 

Ein Abschied für immer

Dann am 5. Januar 1939 – es waren sechs Wochen vergangen – steht die Zehnjährige am Bahnhof in Frankfurt und steigt in den Zug, der sie in die Schweiz bringen wird. Sie sagt auf Wiedersehen zu ihrer Mutter und Großmutter. Auch dies ist ein Abschied für immer. Sie war eine von 100 jüdischen Kindern aus Deutschland, denen die Ausreise in die Schweiz in ein Kinderheim erlaubt wurde – und so überlebte sie den Holocaust. 

In ihrem Buch "All in a lifetime" schaut Ruth Westheimer auf ihr Leben zurück und die ersten Kapitel sind ihrer Kindheit gewidmet. Der Leser erfährt, dass ihr Vater Julius Siegel aus Frankfurt aus einer angesehenen jüdischen Familie stammt, ihre Mutter Irma Hanauer aus einem Ort im Landkreis Main-Spessart namens Wiesenfeld. Sie fanden zusammen, da die Mutter im Haushalt des Vaters half. Sehr zum Missfallen der Großmutter wurde sie schwanger. Die Großmutter hätte sich eine Partnerin für ihren Sohn aus der gleichen Schicht gewünscht. Da Abtreibung aber nicht in Frage kam, musste geheiratet werden.

Das Geburtshaus von Ruth Westheimer in Wiesenfeld in der Eckartshofer Straße 7.
Foto: Karlheinz Haase | Das Geburtshaus von Ruth Westheimer in Wiesenfeld in der Eckartshofer Straße 7.

Die Spannungen aber blieben. Diese waren für Ruth Westheimer der Grund, warum sie in Wiesenfeld geboren wurde und dort auch das erste Jahr ihres Lebens verbrachte. Die Großmutter muss aber irgendwann ihren Frieden mit ihrer Mutter gemacht haben und so kam sie nach Frankfurt. Wiesenfeld blieb trotzdem wichtig für Ruth Westheimer. Viele ihrer Ferien verbrachte sie dort.

Glückliche Kindheit in Wiesenfeld

"Ich liebte es in Wiesenfeld", schreibt sie in ihrer Biografie. Ihr Großvater Moses Hanauer war ein Viehhändler, den sie in ihrem Buch als nicht besonders erfolgreichen Geschäftsmann beschreibt. Ihre Großmutter war eine hübsche Person, mit der die Männer im Dorf gerne flirteten. Da sie das erste Enkelkind war, sei sie ziemlich verwöhnt worden. Sie habe das Leben auf dem Land zusammen mit Kühen, Hühnern und Gänsen genossen.

Eine Gedenktafel ist am Geburtshaus angebracht. 
Foto: Karlheinz Haase | Eine Gedenktafel ist am Geburtshaus angebracht. 

Dann – im Alter von fünf oder sechs Jahren – habe sie ein "großes Verbrechen" begangen, schreibt sie in ihrer Biografie und meint dies ironisch. Sie hatte beschlossen, den Gänsen im Dorf ihre Freiheit zu geben und öffnete das Gatter der Gehege. Es sei eine große Aufregung im Dorf gewesen, bis alle wieder eingefangen waren. An eine Bestrafung, die sie nach eigenen Worten wohl verdient hätte, kann sie sich nicht erinnern. 

Ruth Westheimer war schon von Geburt an sehr klein und sollte es auch bleiben. Ausgewachsen wurde sie nicht größer als 1,40 Meter. Sämtliche Versuche, das Wachstum anzuregen, waren erfolglos. Weder Fischöl noch Medizin hätten geholfen. Aber sie sei auch kämpferisch gewesen. Als bei der Einschulung ein Arzt sie aufgrund ihrer geringen Größe im Kindergarten belassen wollte, habe sie das Einmaleins aufgesagt und daher durfte sie in die erste Klasse. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg immigrierte sie in die USA und kam später mehrmals nach Deutschland zurück. Mittlerweile war sie in den USA eine berühmte Sex-Therapeutin geworden. Es dauerte aber bis 1986, ehe sie auch wieder die Orte ihrer Kindheit besuchte. "Ich erlaubte mir traurig zu sein", schreibt sie in ihrer Biografie. Mit einem Taxi fuhr sie von Frankfurt nach Wiesenfeld. Der Trip dauerte nur eineinhalb Stunden. In ihren Erinnerungen sei das immer eine Weltreise gewesen. In Wiesenfeld fand sie sich schnell zurecht. Der Ort schaute gleich aus und es gab noch Gänse, was sie freute. Möglicherweise waren es die Nachkommen der Gänse, die sie einmal frei gelassen hat.

Zurück an den Orten ihrer Kindheit

Sie klopfte auch an die Tür des Hauses ihrer Großeltern. Die Bewohner kannten sie nicht, sie wurde aber eingeladen, sich das Haus anzuschauen, schreibt sie. Es habe sich wenig verändert, nur an den Wänden hingen Fotografien von Jesus und dem Papst. Zudem suchte sie die Synagoge im Ort. Diese war verfallen und wurde als Lagerschuppen genutzt. Sie sei hinein gegangen und entdeckte ein paar lockere Fliesen. Eine davon habe sie mitgenommen. Mittlerweile ist diese wieder hergerichtet, wird aber nicht mehr als Synagoge benutzt.

In Frankfurt besuchte sie auch ihr Elternhaus. Auch dort kannte man sie nicht. Sie sah die Räume und erinnerte sich an ihre kleine Schlafnische. Dann ging sie an eine weitere Stelle zurück: Den Bahnhof, dort wo sie Abschied genommen hatte von ihrer Mutter und Großmutter. Doch der Bahnhof war neu gebaut, die Lage verändert. So sehr sie sich bemühte, sie konnte die Stelle nicht finden. "Das hat aber keine große Bedeutung", schreibt sie in ihrer Biografie. Das Bild des Abschieds sei immer noch klar in ihrem Kopf und wird es auch bleiben, für den Rest ihres Lebens.

Filmstart: Fragen Sie Dr. Ruth

Die Laufbahn von Ruth Westheimer begann im Radio. Später wagte sie den Schritt ins Fernsehen und wurde eine zentrale Figur der sexuellen Revolution. In dem Film "Fragen Sie Dr. Ruth" stellt sich Ruth Westheimer ihrer schmerzhaften Vergangenheit, aber auch den Errungenschaften in ihrer Karriere. Der Film ist zu sehen in Karlstadt-Mühlbach in den Burg-Lichtspielen am Freitag, Sonntag und Montag (11., 13. und 14. September), jeweils ab 20 Uhr. 
Quelle: gi

Literatur: Dr. Ruth K. Westheimer: All in a Lifetime. Das Buch ist nur in englischer Sprache erhältlich.

 
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