Wer ins Heim geht, sollte gleich an der Eingangstür Libido und Flachmann abgeben und sich auf ein keusches und trockenes Leben einstellen. Ab jetzt heißt's: „Füße still halten“ und den Anordnungen des Personals Folge leisten.
So provokant und mutig es die Regierung von Unterfranken in ihrer Einladung für eine Fachtagung für Betreuungs- und Pflegekräfte formuliert, ist auch das Tagungsthema selbst: „Sex & Drugs & Rock 'n' Roll – Tabuthemen im Heim“.
Dahinter verbirgt sich die Frage, wie man alten oder behinderten Heimbewohnern in Zukunft mehr Selbstbestimmung und Individualität gewähren kann. Ute Volkamer, Leiterin des Kreisseniorenheims in Marktheidenfeld (Lkr. Main-Spessart), in dem diese Fachtagung der Regierung stattfindet, bringt es auf die Formel: „Auch im Heim muss es möglich sein, so leben zu dürfen, wie ich es will.“ Menschliche Bedürfnisse sollen weder totgeschwiegen noch abgewimmelt werden. Das beginnt bei banalen Dingen, die „draußen“ selbstverständlich sind: die Stereoanlage samt CD-Sammlung mitzubringen, ins Kino zu gehen oder den Pizzaservice kommen zu lassen, wenn einem danach ist.
Volkamer und ihre Kollegen wissen, dass sie es in den nächsten Jahren mit einer neuen Generation von Alten zu tun bekommen. Die Nachkriegsgeneration hat anders gelebt als noch ihre Eltern. Sie ist mit Rock 'n' Roll, freier Liebe und zumindest den Versuchungen des Rauschgifts aufgewachsen. Frauen und Männer, die die Zeiten des zivilen Ungehorsams von Studentenprotesten, außerparlamentarischer Opposition und der Friedensbewegung erlebt haben, sind anders sozialisiert als die Kriegsgeneration, die heute überwiegend die Altenheime füllt. Gaben früher Staat, Kirche und Gesellschaft die Orientierung vor, so steht seit den Zeiten der Bundesrepublik das Individuum und seine Selbstverwirklichung im Vordergrund. Und diese frei erzogenen, selbstbewussten Individualisten kommen nun nach und nach auf die Heime zu.
Ute Volkamer erzählt von einer Bewohnerin, die sich freut wie ein Kind, wenn sie bei McDonald's einen Hamburger essen darf. Sonderliche Alte, könnte man meinen. Volkamer kontert: „Warum denn nicht!“ Die betagte Dame hat zeit ihres Lebens mehrere Reisen nach Amerika unternommen. Nicht nur ihr Horizont hat sich damit erweitert, sondern auch ihr Speiseplan. Also weicht das Heim schon mal von der Routine der hauseigenen Großküche ab und lässt die Dame einen Ausflug zur Schnellimbiss-Kette machen.
Die Erfüllung solcher Sonderwünsche sollte eine Selbstverständlichkeit sein, findet Vokamer. Auch Bewohner, die medikamenten- oder drogenabhängig sind, kommen ins Heim. Freilich kann man da, anders als beim Essen, nicht jedem Wunsch Rechnung tragen. Aber das Personal muss sich mit Abhängigkeiten auseinandersetzen und Wege finden, wie man den Betroffenen gerecht wird, statt verschämt wegzuschauen. „Wichtig ist, diese Probleme ernst zu nehmen, sie als Denkanstöße zu begreifen, über die innere Haltung nachzudenken“, sagt Volkamer. „Schwierige Themen dürfen wir nicht wegschweigen. Sie müssen raus und behandelt werden.“
Vielleicht das größte Tabu: Liebe und Sexualität im Heim. Für Volkamer gilt der Grundsatz: „Auch im Heim will ich so leben, wie ich es von zu Hause gewohnt bin.“ Was nach großer Toleranz klingt, ist am Ende sogar ein Stück Eigennutz. Schließlich könnte es jeden von uns treffen. Und dann wünschte sich Volkamer für sich dasselbe wie für ihre Heimbewohner: „Dass man einfach mal die Tür zumachen und für sich sein kann.
“ Das gilt für Beziehungen zwischen Mann und Frau, aber auch für Menschen, die die professionelle Hilfe eines externen Sexualassistenten in Anspruch nehmen wollen. Volkamer sieht eine Aufgabe der Pflege darin, „dem Menschen zu geben, was er braucht“. Auch Heimbewohner hätten Bedürfnis nach Berührung, Zärtlichkeit, Liebe. Das Personal, so sieht es Volkamer, muss diesen Wünschen wie dem Menschen insgesamt Wertschätzung entgegenbringen.
Gerade für demente Bewohner, die größte Gruppe in den Heimen, ist eine nonverbale Begegnung wichtig. Wo die Sprache nicht weiterkommt, kann eine Berührung, eine Empfindung helfen. Je abhängiger der Mensch und je weniger er in der Lage ist, sich verbal zu äußern, desto wichtiger werden Vorgespräche im Pflegeteam und mit den Angehörigen. Mit ihnen wollen die Profis herausfinden, was die ihnen anvertraute Person braucht. Schwierige Themen, die sich die Regierung von Unterfranken für ihre Fachtagung vorgenommen hat, aber offensichtlich trifft sie mit der 6. Veranstaltung ihrer Reihe – wieder einmal – den Nerv. „Gott sei Dank macht ihr was zu diesem Thema“, kommentieren Kollegen schon jetzt diesen Ansatz.
„Endlich gibt es jemanden, der die Tabuthemen aufgreift.“ Claus Völker, zuständig für Heimrechtsfragen bei der Regierung von Unterfranken und Organisator der Fachtagung, will mit der Diskussion über Tabus die Einstellung des Pflegepersonals ändern: „Wir brauchen einen Wertewandel in den Heimen, wenn andere Generationen und neue Interessen auf uns zukommen.“
Wie schon bei den Fachtagungen zuvor will die Regierung auch diesmal Hilfen „aus der Praxis für die Praxis“ entwickeln. Völker: „Wie reagieren wir auf die Beziehungen hochbetagter Menschen?“ – „Brauchen wir neue Wohnformen?“ – „Wie kann man trotz eines knappen Personalschlüssels freundlich und einfühlsam mit den Bewohnern umgehen und ihnen Geborgenheit vermitteln?“
Dass über diese Themen diskutiert wird, dürfte heutigen und künftigen Heimbewohnern Mut machen. Dann brauchen sich die 68er keine Sorgen machen, ob sie ihre Plattensammlung ins Heim mitnehmen dürfen oder nicht. Höchstens darüber, ob die Beatles oder die Rolling Stones aufgelegt werden.
Die Fachtagung für Betreuungs- und Pflegekräfte aus Einrichtungen für Senioren und Behinderte findet am Donnerstag, 9. Juni, von 9 bis 16.45 Uhr im Kreiskrankenhaus Marktheidenfeld statt. Anmeldungen sind noch bis 15. Mai möglich bei Sabine Lauruschkus, Tel. (0 93 91) 502-55 10.