
Hartwig Brönner mochte es spontan gar nicht glauben. "Das bringt mein Blut in Wallung", reagierte der Vorsitzende der Kreisgruppe Main-Spessart des Landesbund für Vogelschutz auf eine Nachricht aus Rodenbach: Auf dem Zaun eines Grundstücks direkt neben der Kirche hatte sich ein Vogel niedergelassen, der hierzulande extrem selten ist. Vogelexperte Brönner identifizierte ihn eindeutig als Nachtreiher.
Dass er generell schwer auszumachen ist, verrät schon sein Name: Der kurzbeinige Verwandte der hier weit verbreiteten Graureiher und etwas selteneren Silberreiher wird erst in der Abenddämmerung aktiv. Man bekommt ihn also selten zu Gesicht, und wenn, dann eigentlich nur in Südbayern. Aus dem 19. Jahrhundert gibt es laut einer Veröffentlichung der Ornithologen Manfred Kraus und Werner Krauß aus dem Raum Nürnberg keinerlei Bruthinweise. Ein erster gesicherter stammt aus dem Jahr 1950 an der unteren Isar, der erste in Nordbayern erst 56 Jahre später aus dem Jahr 2006 im Aischgrund (Landkreis Erlangen-Höchstadt).

Hinweise auf Sichtungen in der näherem Umgebung gab es zuletzt 2017 im baden-württembergischen Wittighausen (Main-Tauber-Kreis), und zwar in der Nähe der dortigen Wasserbüffelherde, sowie im vergangenen Jahr am Obermain zwischen dem Lichtenfelser Stadtteil Oberwallenstadt und dem Nachbarort Michelau (Oberfranken).
Im Landkreis Main-Spessart weiß Vogelexperte Brönner nur von zwei Sichtungen: Er selbst hat schon einmal einen Nachtreiher ausgemacht, als er mit einem Boot auf dem Main unterwegs war, etwa auf Höhe des Aloysianums. "Ich hab erst auf eine junge Rohrdommel getippt, weil die sich sehr ähnlich sind." Aber das ist jetzt schon gut und gern 20 Jahre her.
In Main-Spessart bisher erst zweimal gesichtet
Die zweite und bisher jüngste liegt laut Brönner zwei oder drei Jahre zurück: Damals entdeckte Bernd Schecker, "ein sehr guter Ornithologe" aus Steinbach ein Exemplar am Obi-See. "Das war einer, der noch nicht ausgefärbt war, also im Jugendkleid."
Dass sich ein Zugvogel in Rodenbach verirrt, kann schon mal vorkommen. Diese Wasservögel würden sich bei ihren Flügen an Flussläufe halten, erläutert Brönner. "Die wenigen, die in die Brutgebiete zurückkommen, schießen manchmal übers Ziel hinaus." Meist handle es sich dann – wie bei den bisherigen Sichtungen – um junge Tiere. Das Rodenbacher Exemplar ist nun zweifelsfrei aus ausgefärbter und damit brutreifer Vogel und damit ein Novum in dieser Region.
Was Vogelkundler noch mehr überrascht
Was noch ungewöhnlicher ist: Der nacht- und dämmerungsaktive Vogel saß 150 Meter vom Mainufer entfernt, mitten im Altort, als ihn der zwölfjährige Raul entdeckte. Der ahnte wohl, dass es ein besonderer Vogel ist und holte sofort seine Mutter Melanie Sacra, die dann das Foto schoss. "Das würde sogar Experten überraschen", meint Brönner. "Im Garten, am Tag – das ist schon etwas verwunderlich."
Der Fachliteratur zufolge war der Nachreiher ursprünglich auch in Mitteleuropa weit verbreitet. Verhältnismäßig häufig als Brut- und Sommervogel ist er mittlerweile jedoch nur noch im Osten und Südosten Mitteleuropas. In den unmittelbaren Nachbarländern Deutschlands schätzten Krauß und Kraus das Vorkommen 2006 auf rund 1500 Brutpaare – überwiegend in Polen und Tschechien. Im Aischgrund sind es laut Brönner nur zwei oder drei dauerhafte Brutpaare.
Auf der Roten Liste der extrem seltenen Arten
In Bayern steht er auf der Roten Liste der "extrem seltenen Arten und Arten mit geografischer Restriktion", in ganz Deutschland wird er als "stark gefährdet" eingestuft. "Trotz einer Zunahme besetzter Brutplätze wurde im Kartierzeitraum der bisherige Höchstbestand von 30 Paaren aus dem Jahr 1999 nicht erreicht", heißt es auf der Homepage des Bayerischen Landesamtes für Umwelt. Aktuell wird der Bestand im Freistaat mit 14 bis 16 Brutpaaren angegeben. Die meisten von diesen nisten in den Donauauen.
Damit rangiert der Nachtreiher unter den seltensten der rund 285 hier heimischen Brutvogelarten, von denen laut Brönner jede zweite als gefährdet oder gar ausgestorben gilt.