Es herrschte noch Krieg in Deutschland, das Naziregime ging dem Ende entgegen, da spielte Josef Köhler aus Wolfsmünster (Lkr. Main-Spessart) als elfjähriger Bub bereits in der heiligen Messe die Kirchenorgel. Zunächst nur mit dem Manual, weil die Beine noch zu kurz und die Füße zu klein waren, um die Pedale zu erreichen. Es war der Beginn einer Berufung: Jahrzehntelang ist Köhler zuverlässig mit dem Fahrrad den über zwei Kilometer langen Weg zur Kloster- und Wallfahrtskirche nach Schönau (Lkr. Main-Spessart) bei Gemünden gefahren, auch mit Umwegen bei Hochwasser oder Glatteis. Früher hat er diesen Weg an Sonntagen drei mal hin und zurück absolviert. In Schönau hat er die Hochämter an den Feiertagen, bei Sonntagsmessen, Andachten, Hochzeiten, Trauergottesdiensten und viele sonstigen kirchlichen Anlässen musikalisch gestaltet.
Mit dem Fahrrad nach Schönau
An diesem Sonntag nun geht der ewige Organist im Alter von 84 Jahren in Rente: Er wird zum letzten Mal in seiner Funktion die Stufen zur Empore hochgehen und auf der Orgelbank Platz nehmen. Er wird dort zum letzten Mal die Tasten bewegen und die Pfeifen ertönen lassen. Nach dann 73 Jahren wechselt Josef Köhler auch als Organist und Sänger in den Ruhestand. Seine feine Tenorstimme, die viele Gottesdienste in der barocken Kirche zum gefühlvollen Orgelklang noch ein wenig feierlicher werden ließ, werden sicher viele treue Kirchgänger vermissen.
„Irgendwann muss Schluss sein und man sollte dann aufhören, wenn man noch kann“, sagt Köhler, der vor einigen Tagen mit seiner Frau Leni die Diamantene Hochzeit feiern konnte. Ganz abrupt will er das Notenbuch aber nicht schließen: Den Schonderfeldern wird er weiter treu bleiben und wenn Not am Mann ist auch gelegentlich in Wolfsmünster oder Gräfendorf als Aushilfe spielen.
Viel vom Vater gelernt
Das Orgelspielen wurde dem rüstigen ehemaligen Landwirt bereits in die Wiege gelegt: „Ich war immer beim Vater dabei, der war Chorleiter, Kapellmeister und Organist, und so bin ich da rein gewachsen.“ Das Erlernen der Noten war die erste Voraussetzung für seine musikalische Laufbahn. Wann er mit Vater Karl das erste Notenblatt aufgelegt hat, weiß er nicht mehr genau. Er schätzt mit neun Jahren. Später, als sein Onkel Franz, der ebenfalls Organist war, aus der Gefangenschaft zurück kam, hat man sich das Orgelspiel in Wolfsmünster und den umliegenden Orten untereinander aufgeteilt.
Auch Chorleiter und Sänger
Nach und nach übernahm er vom Vater auch die anderen musikalischen Tätigkeiten: Josef Köhler leitete den Chor und die Musikkapelle in Wolfsmünster, die unter seiner Leitung weit über die Grenzen des Landkreises bekannt wurde: „Wir haben in den 1960er Jahren die ersten großen Musikfeste gefeiert. Einmal mit über 30 Gastkapellen und einem Chor aus Duisburg.“ Köhler war auch Vorsitzender der Landjugend und spielte in jungen Jahren gerne Theater. „Die Sänger und Musikanten waren eine tolle Gemeinschaft, wir haben viel zusammen unternommen.“
Auch die Tanzmusik kam nicht zu kurz. In verschiedenen Kapellen der Umgebung spielte er Trompete, Akkordeon und Orgel. Einmal habe man in Würzburg in der Faschingswoche von Donnerstag bis Fastnachtsdienstag jeden Tag bis in die frühen Morgenstunden durchgespielt. „Heute frage ich mich, wann ich überhaupt geschlafen habe.“
Ein Amen als Weckruf
An manchen Sonntagen kam er früh um 4.30 Uhr heim, dann wurde im Stall das Vieh gefüttert und anschließend stand der erste Sonntagsgottesdienst auf dem Programm. Zwischendurch ging es zum Schwimmen ins Hallenbad nach Gemünden. Nach dem Essen führte ihn der Weg wieder in die Kirche. Kein Wunder, dass bei der Predigt manchmal die Augenlider schwer wurden und der Organist kurz vor dem Einnicken war. „Das Amen am Ende der Predigt war dann so etwas wie der Weckruf“, sagt Köhler mit einem Schmunzeln.
Es gab allerdings auch nachdenkliche Momente. Schlimm war es für den Familienvater mit vier Kindern, als sein Sohn Wolfgang, der das musikalische Talent geerbt hatte, vor zehn Jahren starb und Köhler selbst eine lebensbedrohliche Erkrankung überstand. Die Musik habe ihm Kraft gegeben, das zu überwinden.
„Ich weiß nicht, in wie viel Kirchen ich gesungen habe. Der beeindruckendste Auftritt war für mich, als ich während einer Reise in Ungarn in einem Dom das Ave-Maria von Bach singen konnte. Da haben sich Kirchenbesucher bei mir bedankt und vor Rührung geweint“, erinnert sich Köhler.
Am Sonntag ist Schluss
Ansonsten hat Köhler bei den Kirchenliedern keinen besonderen Favoriten. Das gehe je nach Anlass und mit dem Kirchenjahr. Wichtig sei, dass man ab und zu etwas Neues erklingen lässt und nicht immer die gleichen Lieder spielt.
Ob er sich für seinen letzten Einsatz am Sonntag ein besonderes Schlusslied gewünscht habe? Nein, sagt Köhler, ganz der Pflichtbewusste, der er über die vielen Jahrzehnte war: „Das ist wie immer. Das Schlusslied steht auf dem Zettel, der aus der Sakristei kommt.“