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Steinbach
Sechs Jahre Weihnachten in Krieg und Gefangenschaft
Josef Thomas Kuhn hat seine Erinnerungen aufgeschrieben. Der 90-Jährige hätte Grund genug dafür, hadert aber nicht mit seinem Leben. „Für Selbstmitleid war keine Zeit.“
Josef Thomas Kuhn aus Steinbach hat seine Erinnerungen an Krieg und Gefangenschaft aufgeschrieben. Erhalten geblieben sind seine Weihnachtsnotizen an die Familie daheim.
Foto: Thomas Kohnle | Josef Thomas Kuhn aus Steinbach hat seine Erinnerungen an Krieg und Gefangenschaft aufgeschrieben. Erhalten geblieben sind seine Weihnachtsnotizen an die Familie daheim.
Bearbeitet von Christiane Kuhn
 |  aktualisiert: 03.12.2019 10:59 Uhr

Wenn der neunzigjährige Josef Thomas Kuhn erzählt, schließt er immer wieder die Augen und streicht sich über das Haar. Nichts will er, einer der letzten Zeitzeugen, vergessen. Doch nicht das Erinnern ist schwer, sondern die Erinnerung an ein Leben, das ihm seine Jugend gestohlen hat. Dennoch hadert er nicht mit seinem Schicksal. „Für Selbstmitleid“, sagt er, „war keine Zeit.“

Josef Kuhn ist der Jüngste von zehn Geschwistern. Seine Eltern hatten den Gutshof der Familie von Hutten in Steinbach gepachtet. Er besuchte das Gymnasium in Lohr und war fünfzehn, als sich sein Leben schlagartig änderte.

Josef Thomas Kuhn hat seine Erinnerungen aufgeschrieben
Foto: Christiane Kuhn | Josef Thomas Kuhn hat seine Erinnerungen aufgeschrieben

Es war ein warmer Tag im August 1943. Das fünfte Kriegsjahr. Mitten im Unterricht, die Schüler lasen gerade Cäsar – Der gallische Krieg – wurde ihnen vom Direktor die Nachricht überbracht, die gesamte Klasse solle als Luftwaffenhelfer eingezogen werden. Wenige Tage später, am 1. September, versammelten sich die Jugendlichen in Begleitung des Lateinlehrers Dr. Imhof am Lohrer Bahnhof, um zur Ausbildung nach Schweinfurt zu fahren. Kinder noch, die mit gemischten Gefühlen loszogen. „Unversehens kamen wir uns erwachsener vor“, schreibt  Kuhn in dem Buch, das er gerade beendet hat und das den Titel trägt: „Auf dem Höhepunkt des II. Weltkriegs.“

Von der Schulbank in den Krieg

Im Ausbildungslager in Schweinfurt wurde der Krieg zum ersten Mal konkret sichtbar. Die Schüler kamen in eine Stadt, die am 17. August 1943 von der 8th US Air Force heftig bombardiert worden war. Damit war seine Kindheit, die Jugend mit einem Schlag beendet. „Dieser Tag führte uns in eine neue Welt. Disziplin, Gehorsamkeit, Pünktlichkeit, korrektes Auftreten und Pflichtbewusstsein waren fortan die maßgebliche Devise“, erinnert sich Kuhn.

Nur einmal noch, nach der Zeit als Luftwaffenhelfer und im Reichsarbeitsdienst, fuhr er nach Steinbach zu seinem letzten Heimaturlaub. Dort lag schon der Einberufungsbefehl auf der Kommode. Er hatte sich am 24. November 1944 bei der Division Großdeutschland in Cottbus einzufinden. Sein Vater verabschiedete sich mit den Worten: „Nun wird mir auch noch der Letzte genommen.“ Vier seiner Söhne hatte er bereits in den Krieg ziehen sehen, einer von ihnen, Karl, war 1942 in Russland gefallen.

Kurz vor Kriegsende an die Front

Nach der Ausbildung zum Kraftfahrer in Cottbus wurde Josef Kuhn schließlich am 8. Februar 1945, genau drei Monate vor Kriegsende, an die Front geschickt. Gerade einmal siebzehn Jahre alt. Die Russen waren an der Oder südlich von Frankfurt durchgebrochen, marschierten Richtung Berlin und der Krieg war längst verloren. Dort an Oder und Neiße hat Kuhn die letzten schweren Kämpfe miterlebt.

"Ein einziger brennender Wunsch beherrschte die Sinne: Nur mit dem nackten Leben herauskommen aus diesem Grab."
Josef Thomas Kuhn  über die Tage an der Front

Nichts beschönigt Kuhn in seinem Buch, das er für die Familie und Freunde geschrieben hat. Ob er es veröffentlichen will – das hat er noch nicht entschieden. Er erzählt darin von Panzerangriffen direkt auf die Gefechtsstellungen der Russen zu; von verängstigten Menschen in den Dörfern; Frauen, die vergewaltigt worden waren; Offizieren, die mit Erschießung drohten, wenn sie Befehlsverweigerung auch nur vermuteten. Täglich flogen Bomben und Granaten durch die Luft. Die Erde bebte unter den Füßen. Bis heute noch hört Kuhn die Angstschreie der Menschen. Das Buch zeigt eindringlich, wie schnell er erwachsen werden musste: „Beten und Hoffen waren das Einzige, was jetzt noch zählte. Alles, was vor wenigen Minuten Bedeutung hatte und wichtig erschien, schmolz zu einem Nichts zusammen. Ein einziger brennender Wunsch beherrschte die Sinne: Nur mit dem nackten Leben herauskommen aus diesem Grab.“

In russische Gefangenschaft gteraten

Drei Monate lang bis Kriegsende erlebte Josef Kuhn den Krieg hautnah. Nicht nur einmal war sein Leben in Gefahr. Und dann, trotz der erklärten Kapitulation am 8. Mai 1945, wurde seine Division aufgefordert bis zur letzten Minute in Kampfstellung zu bleiben und die Frontlinie zu verteidigen. „Wir sollten die Russen am Vorrücken hindern, um die Fluchtwege zum Westen für die vielen deutschen Zivilisten und Verwundeten zu sichern.“ Das Schicksal war Josef Kuhn bis dahin gewogen geblieben, doch am Ende passierte das, was er damals mehr fürchtete, als den Verlust seines Lebens. Er geriet in russische Gefangenschaft – drei Tage nach Kriegsende.

Damit endet das Buch – doch nicht die Erinnerungen. Das ehemalige Vorstandsmitglied der Allianz Deutschland AG war immer ein fleißiger und akribischer Arbeiter. Über Jahrzehnte hinweg hat er Erlebnisse auf jedes Stück Papier notiert, das ihm zur Verfügung stand. Später hat er diese Notizen in den Computer eingegeben und auch heute, mit knapp 91 Jahren, sitzt er noch fast jeden Tag an seinem Laptop. Namen von Orten und Menschen, ihre Besonderheiten und Eigenarten haben sich fest in sein Gedächtnis eingebrannt.

Über die Zeit seiner Gefangenschaft in Russland hat er bereits Fragmente geschrieben, aber ob er die Kraft haben wird, alles zu einem nächsten Buch zusammenzutragen, weiß er nicht. Die Arbeit wäre ohne seine Nichte Gertrud Lohr sowieso nicht möglich. Jede Woche treffen sie sich, um die Notizen zusammenzutragen. Gott sei Dank hat seine Schwester Marie die Briefe und Karten aufbewahrt, die er aus den unterschiedlichen Kriegsgefangenenlagern schrieb.

Eindrucksvoll ist ein aus einem Zementsack herausgerissener Fetzen Papier. Darauf hat er eine erste Nachricht an seine Eltern geschrieben.
Foto: Christiane Kuhn | Eindrucksvoll ist ein aus einem Zementsack herausgerissener Fetzen Papier. Darauf hat er eine erste Nachricht an seine Eltern geschrieben.

Nachricht an die Eltern aus dem Zug geworfen

Eindrucksvoll ist ein aus einem Zementsack herausgerissener Fetzen Papier. Darauf hat er eine erste Nachricht an seine Eltern geschrieben, dass er am Leben und auf dem Weg in die Gefangenschaft sei. „Den Zettel habe ich zusammengeknüllt und in Österreich aus dem Lichtdurchlass des Waggons geworfen. Auf diese Weise habe ich mehrere Nachrichten hinterlassen.“ Immer in der der Hoffnung, einer der Zettel würde bei seiner Familie ankommen. Und tatsächlich hat jemand den Brief gefunden und ihn zu seinen Eltern nach Steinbach geschickt.

Die ersten Jahre der Gefangenschaft waren hart. Er schuftete in einem Steinbruch, beim Straßenbau und am Bau einer Brücke. Doch er gab nicht auf. Beharrlich hat er sich die russische Sprache selbst beigebracht. Mit Hilfe eines Lehrbuches, das ihm ein Russe schenkte. „Dies brachte mir manche Vorteile“, erklärt er. Aufgrund seiner guten Sprachkenntnisse wurde er in ein Schreibbüro versetzt, wo er unter anderem für die Lagerabrechnungen zuständig war. Durch seinen Fleiß erwarb er sich immer wieder das Vertrauen der russischen Lagerkommandanten wie auch der anderen Gefangenen, die mit manchem Anliegen zu ihm kamen. „Der rauhe, miese, hoffnungslose Alltag hatte dadurch etwas Farbe bekommen und mein Selbstbewußtsein zeigte deutlichen Auftrieb“, heißt es in seinen Notizen.

Josef Kuhn (rechts) 1948 im Lager Lopasnija.
Foto: Sammlung Kuhn | Josef Kuhn (rechts) 1948 im Lager Lopasnija.

Berichte in der Prawda machte Hoffnungen

Dann endlich ab 1947, zwei Jahren Gefangenschaft lagen hinter ihm, stieg die Hoffnung bald wieder nach Hause zu kommen. Denn immer wieder las der inzwischen Neunzehnjährige in der russischen Zeitung Prawda von Repatriation, also von Gefangenen, die in die Heimat entlassen wurden. Irgendwann würde auch er nach Hause kommen.

„Viel Glück und Gesundheit im kommenden Jahr, das uns hoffentlich das lang ersehnte Wiedersehen bringt“, schrieb Kuhn in demselben Jahr auf einer Weihnachtskarte an seine Familie. Dreizehn Zeilen. Mehr war nicht erlaubt. Und er musste jedes Wort auf die Goldwaage legen, denn die Post wurde zensiert. Doch bis zu seiner Rückkehr sollte es noch weitere zwei Jahre, bis zum 24. November 1949, dauern. Auf den Tag genau sechs Jahre, nachdem er einberufen worden war.

Liebevoll hat Josef Kuhn damals im Lager die spärliche Nachricht mit Weihnachtsmotiven verziert.
Foto: Christiane Kuhn | Liebevoll hat Josef Kuhn damals im Lager die spärliche Nachricht mit Weihnachtsmotiven verziert.

Liebevoll hat Josef Kuhn damals im Lager die spärliche Nachricht mit Weihnachtsmotiven verziert. Auf die Frage wie es denn war, Weihnachten in Gefangenschaft, schüttelt der Neunzigjährige den Kopf und schließt wieder die Augen. Darüber sprechen kann und will er nicht. Zu tief sitzt das Trauma.

„Angst hatte ich nicht. Wir hatten schon lange keine Angst mehr.“
Josef Thomas Kuhn über seine Zeit im Lazarett

Stattdessen redet er über die Kälte, den scharfen, eiskalten Wind, der um die Baracken im Lager fegte. Und von Wölfen, die laut in den Wäldern heulten, als er mit Ruhr im Lazarett lag. „Angst hatte ich nicht. Wir hatten schon lange keine Angst mehr“, sagt er.

Fast sieben Jahre wurden ihm gestohlen, dennoch hadert Josef Kuhn nicht mit seinem Schicksal. Vielleicht deshalb, weil er nicht schweigt, sondern aufgeschrieben hat, was ihm passiert ist. Der Neunzigjährige ist ein wacher, lebensbejahender Mensch geblieben, der dem Leben und den Menschen neugierig gegenüber steht, ob es sich um seine Familie, die Politik oder Fußball handelt. Und bei allem wünscht er sich immer noch das, was er mit neunzehn Jahren auf die Weihnachtskarte geschrieben hat: „Friede den Menschen auf Erden.“

 
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Kommentare
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  • E. B.
    Das erinnert mich alles an meinen Vater (4 Jahre Krieg und 4 Jahre russ. Gefangenschaft).
    Bitte notieren und veröffentlichen. Ich würde es sofort kaufen. Die jungen Leute können sich das alles nicht mehr vorstellen. Danke für den Bericht.
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  • M. B.
    Eine beeindruckende Geschichte, die uns vor Augen führt wie wichtig Frieden eigentlich ist und dass wir alles dafür tun müssen diesen zu erhalten.
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