Linksabbiegen will gelernt sein: Sieben Schritte sind es, die Grundschüler bei diesem komplexen Vorgang lernen müssen. Zurückschauen, Handzeichen geben, zur Fahrbahnmitte einordnen, Vorfahrt abklären, nochmals umsehen, im weiten Bogen abbiegen, auf Fußgänger Rücksicht nehmen. Die Klasse 4a der Grundschule Karlstadt übt das an diesem verregneten Dienstagmorgen intensiv, denn: Morgen ist Prüfungstag.
Seit drei Wochen kommen die Verkehrserzieher der Polizei, Winfried Gehrig und Stefan Kaiser, zweimal wöchentlich in die Grundschule Karlstadt und üben mit den Kindern, wie sie sich auf dem Fahrrad sicher durch den Straßenverkehr bewegen. Bei den 22 Kindern der 4a sind sie sich sicher: Bis auf ein, zwei Wackelkandidaten werden die meisten Kinder die Prüfung bestehen. Doch das ist schon längst nicht mehr normal.
Seit 19 Jahren ist Winfried Gehrig als Verkehrserzieher im Landkreis dabei. Er beobachtet: Seit ungefähr fünf Jahren fallen immer mehr Jungen und Mädchen durch die praktische Prüfung. „Wir hatten Anfang des Schuljahres eine Klasse, in der sind 14 von 22 Kindern durchgefallen“, berichtet Gehrig. Schaut er in seine Statistik, fielen zum Vergleich im Schuljahr 2006/2007 nur 13 Schülern im ganzen Jahr durch. Und das bei insgesamt mehr Kindern: Wurden im letzten Schuljahr insgesamt 497 Kinder in Karlstadt und Marktheidenfeld auf die Radfahrprüfung vorbereitet, waren es vor knapp zehn Jahren noch 770.
Kleine Klassen von Vorteil
Im Raum Lohr und Gemünden übernehmen die Verkehrserzieher Uwe Friedel und Peter Helfrich die Radfahrausbildung in den Grundschulen. Im Jahr 2017/18 waren das 475 Schüler. Sie berichten, dass die Durchfallquote bei ihnen noch nicht so hoch sei wie bei den Kollegen, aber ebenfalls steigend. Einen Grund sieht er darin, dass sie es öfter mit kleineren Klassen zu tun hätten, wie zum Beispiel im Sinngrund. Mit einer Klassenstärke von rund 15 Kindern könne viel intensiver geübt werden als mit 25. Ebenso gibt es in ihrem Bereich weniger jahrgangsgemischte Klassen.
In Karlstadt und Marktheidenfeld hingegen betreuen die Kollegen einige Klassen, in denen sie Dritt- und Viertklässler gemeinsam auf die Prüfung vorbereiten. Das sei nicht immer einfach, weil die Kinder in der dritten Klasse oft noch nicht die kognitive Reife für die Radausbildung hätten. Aber auch das sei nicht der Hauptgrund für die steigenden Durchfallzahlen.
Woran es also liegen könnte? „Die Kinder können sich nicht lange konzentrieren“, hat Winfried Gehrig festgestellt. Das falle besonders bei der Übung zum Linksabbiegen auf. Viermal hintereinander sollen sie im Übungsparcours auf dem Schulhof links abbiegen. „Das klappt bei den ersten beiden Malen noch gut, danach wird es schon schwieriger“, erläutert Stefan Kaiser. Besonders den Kindern, die noch unsicher Fahrrad fahren, falle die Handlungsabfolge schwer. Da will der ausgestreckte Arm gerne schnellstmöglich wieder an den Lenker. Oft völlig aus dem Ruder gerate das Linksabbiegen dann, wenn es ans freie Fahren geht – wenn die Kinder frei auf dem Pausenhof-Parcours fahren dürfen. „Dann geht es drunter und drüber“, so Kaiser.
Motorische Defizite spielen eine Rolle
Laut Kaiser spielen motorische Defizite eine Rolle. „Die Lehrer bestätigen uns, dass die Kinder im Sportunterricht schlechter werden“, so der Verkehrserzieher. Schwimmen, Fahrradfahren, Purzelbaum schlagen – das sei bei Grundschülern kein Standardrepertoire mehr. Uwe Friedel hat dafür eine Erklärung: „Der Leistungsdruck auf die Kinder nimmt zu, die Kinder sitzen auch nach der Schule viel am Schreibtisch.“ Darüber hinaus habe sich durch die neuen Medien das Beschäftigungsangebot daheim verändert.
Aber auch die Sorge der Eltern spielt eine Rolle. Viele hätten Angst, ihre Kinder auf dem Fahrrad allein in den Straßenverkehr zu lassen. „Die Kinder bekommen so keine Chance, mit dem Straßenverkehr aufzuwachsen, ihn kennenzulernen und die Angst zu verlieren“, erläutert Uwe Friedel. Ihren dringlichsten Appell richten die Verkehrserzieher insofern an alle Eltern: „Geht raus, fahrt mit euren Kindern Rad!“ Gut sei es, wenn die Kinder von der ersten Klasse an ihren Schulweg zu Fuß absolvieren und so kennenlernten.
Kinder zeigen wenig Emotionen
Ein wenig ratlos lässt die Verkehrserzieher die Tatsache, dass die Kinder heutzutage ihr „Bestehen“ oder „Durchfallen“ in der Prüfung relativ emotionslos hinnehmen. „Früher sind die Tränen gerollt, wenn die Kinder ihren Fahrradführerschein nicht bekommen haben“, erzählt Gehrig. Im Gegenzug war der Jubel groß und vor allem laut, wenn alle bestanden hatten.
„Wenn heute Prüfung gewesen wäre, wären sechs von euch durchgefallen. Das ist zuviel!“, verkündet Gehrig am Schluss der heutigen Übungseinheit der 4a. Der ein oder andere sei noch zu sehr mit dem Fahrradfahren an sich beschäftigt. In den meisten Fällen hapere es aber beim Linksabbiegen. Das ist auch das, was die meisten Kinder am schwierigsten finden. Ob sie aufgeregt sind vor der Prüfung am nächsten Tag? Die meisten schütteln die Köpfe. Im Gegenteil, sie können es kaum erwarten: Endlich mit dem Fahrrad in die Schule zu fahren.