Der große Moment dauert nur wenige Sekunden. Begleitet von kaum zu ertragender Hitze geht er vonstatten, fast geräuschlos und dennoch spektakulär: Kunstgießer Roman Pecher (50) lässt die 1200 Grad heiße Bronze aus dem rotglühenden Kübel zielgenau in das Loch der klobigen Schamottform fließen. Absetzen. Fertig. Das letzte Teil der Lohrer Schneewittchenfigur, die über zwei Jahre lang für heftige Diskussionen und bundesweite Schlagzeilen gesorgt hat, ist gegossen.
„Für einen Künstler ist das der Geburtsmoment“, sagt Peter Wittstadt. Der Karlstadter Maler und Bildhauer ist die 250 Kilometer zu der auf solche Kunstwerke spezialisierten Gießerei im tschechischen Stara Voda bei Marienbad gefahren, um diesen Moment mitzuerleben. „Das entschädigt für all die Diskussionen“, sagt Wittstadt, als das Werk vollbracht ist.
Zwar müssen die insgesamt 13 Einzelteile der am Ende knapp drei Meter großen und 600 Kilo schweren Bronzefigur in den kommenden Wochen noch zusammengeschweißt und nachpatiniert werden. Dennoch: Für Wittstadt (55) markiert der Augenblick, in dem der Bronzestrahl versiegt, einen Abschluss.
Der Abschluss eines künstlerischen Schaffensprozesses einerseits, aber, so hofft Wittstadt zumindest, auch der Abschluss einer öffentlichen Diskussion und Streiterei, die er als „äußerst unangenehm und belastend“ empfunden hat.
In der Tat hat die Figur schon lange vor ihrem Guss die Emotionen hochkochen lassen. Eine Jury hatte Wittstadts Entwurf Ende 2013 zum Sieger des ersten Lohrer Kunstpreises erklärt. Die selbsternannte Schneewittchenstadt wollte über den Kunstpreis eine Figur erhalten, mit der sich nicht zuletzt Touristen fotografieren lassen können.
Stummelärmchen und dicke Zöpfe
Und dann das: Wittstadts Schneewittchen ist eine abstrakte, knorzige Gestalt. Sie hat ein verschobenes Gesicht, Glubschaugen, Stummelärmchen und sieben in alle Richtungen abstehende Zöpfe. Das und der von Wittstadt festgesetzte Preis von 103 000 Euro sorgten in Lohr für einen Aufschrei, bundesweit für Spott.
Beides hat Wittstadt belastet. Er fühlt sich als Künstler unverstanden. Von Anfang an habe er kein schönes, kein klassisches Schneewittchen machen wollen. „Für mich müssen andere Dinge stimmen“, sagt Wittstadt. Das Verhältnis von Volumen zu Fläche, die Art, wie ein Kunstwerk zum Raum spreche, „wie jeder Buckel zum nächsten Hohlraum passt“, das sei es, was für ihn im Schaffensprozess im Vordergrund gestanden habe. Kein Detail seiner Schneewittchenskulptur, die nicht selten mit den Werken von Kindergartenkindern verglichen wurde, sei Zufall. Doch als Künstler stehe man mit seinen Vorstellungen eben oft allein.
„Es braucht seine Zeit, bis das vom Publikum erkannt wird“, hofft Wittstadt darauf, dass sich die Wogen glätten. Er sei sich sicher, dass Lohr von seinem Schneewittchen profitieren werde.
Schon jetzt großer Werbeeffekt
Dass die Figur für die Stadt einen Nutzen hat, haben bei aller noch immer vorhandenen Kritik viele Lohrer mittlerweile erkannt. Obwohl Wittstadts Schneewittchen noch gar nicht steht, könnte der bisherige Werbeeffekt kaum größer sein. Im In- und Ausland wurde mit großer Reichweite über die Schneewittchenstadt und die knorzige Darstellung der Märchengestalt berichtet, seitenweise in auflagenstarken Magazinen, auch in etlichen Fernsehbeiträgen.
Der ganze Wirbel hat in der Spessartstadt ein neues Bewusstsein zum Thema Schneewittchen wachsen lassen. Es bildete sich eine Initiative, die eine aus Lohr stammende und in Irland lebende Künstlerin ein zweites Schneewittchen erschaffen ließ. Dieses sitzt mittlerweile auf einer Lohrer Parkbank und kann in seiner Schlichtheit als Gegenentwurf zur Wittstadt-Figur gelten. Ein Lohrer Schüler kreierte in Anlehnung an Wittstadts Figur das „Horrorwittchen“, eine mit Messer bewaffnete Gestalt, die die sieben Zwerge vor sich her treibt. Als T-Shirt und Autoaufkleber ist das Horrorwittchen tausendfach in Lohr unterwegs. Und schließlich entstand eine Art Schneewittchenachse durch die Stadt, an der sich verschiedene Spielpunkte rund um die Märchengestalt finden, vom Spiegel bis zum Puzzle.
Vielleicht auch angesichts all dieser von seinem Kunstwerk ausgelösten Effekte ist Wittstadt erstaunt darüber, dass die Kosten seiner Skulptur immer wieder thematisiert werden. Von den gut 100 000 Euro gingen allein 30 000 für den Guss ab. Auch den Transport, einen Sockel aus Muschelkalk und das Aufstellen müsse er zahlen, daneben noch fünf Reliefplatten, die wie das Schneewittchen im Herbst auf dem Vorplatz der in Bau befindlichen neuen Lohrer Stadthalle platziert werden sollen. „Am Ende bleiben mir vielleicht 50 000 Euro“, sagt Wittstadt. Es gebe Künstler, die für ein solches Werk mehrere hunderttausend Euro erhielten. „Aber als Künstler ist man nicht auf Geld aus.“