Die Landschaft hier mit der vielen Natur erinnert mich sehr an meine Heimat auf der Krim“, sagt Rushena Gasimli (26), die für drei Wochen als Praktikantin im Bürgerbüro des SPD-Bundestagsabgeordneten Bernd Rützel zu Gast in Gemünden ist. Die Studentin ist Krimtatarin und gehört damit der Volksgruppe an, deren Anteil auf der Halbinsel Krim aufgrund jahrhundertelanger Verdrängung heute nur noch etwa 14 Prozent der Bevölkerung ausmacht.
Im Gegensatz zum Leben in der Weltstadt Berlin, wo sie ihr Masterstudium mit Schwerpunkt Osteuropäisches Recht abschließen will, oder in Potsdam, wo sie seit sechs Jahren lebt, sei in der Kleinstadt Gemünden das Leben nicht so anonym.
Es gefalle ihr, wenn die Leute grüßen, sich einen guten Tag wünschen und offen aufeinander zugehen. Auch das erinnert sie an ihre Heimat. Man kennt sich und nimmt Anteil am Leben der anderen Zeitgenossen.
Leider mischen sich unter ihre Gedanken an die Heimat auch wehmütige Gefühle. „Seit der Okkupation der Krim durch Russland im Februar 2014 haben sich die Lebensbedingungen und Pflege der jahrhundertealten Kultur mit Sprache, Musik und Tanz sehr verschlechtert“, sagt Rushena. So wurde der eigene Fernsehkanal abgeschaltet und in den Schul- und Geschichtsbüchern verschwinde jeder Hinweis auf das traditionsreiche Volk der Krimtataren.
Als Teil der Ukraine sei man zwar auch nicht sehr wertgeschätzt worden, aber es gab eine gewisse Autonomie und die eigene Kultur konnte gepflegt werden. Heute gelte es, sich ruhig zu verhalten, was der Jugend nicht immer leicht falle, obwohl die Strafen drastisch sein können. Wenn beispielsweise ein Jugendlicher unbedarft und im „falschen Zusammenhang“ das Wort „Annexion“ in einer Kurznachricht seines Handys verwendet, könne er Schwierigkeiten, bis hin zur Verhaftung bekommen.
Die Leidensgeschichte ihres Volkes ist lang. Wenn die in Geschichte bewanderte Studentin mit Bachelor-Abschluss von der Deportation unter Stalin berichtet, sind verblüffende Parallelen zu den Schilderungen von Deutschen aus Russland erkennbar, die als Spätaussiedler in den 1990er Jahren in die Bundesrepublik kamen: „Meine Großeltern waren fünf und sieben Jahre alt, als sie, wie viele Alte, Frauen und Kinder, in die Viehwaggons verladen wurden.“
Ohne Verpflegung wurden die der angeblichen Kollaboration mit dem Naziregime beschuldigten Volksgruppen in die menschenleeren Weiten Sibiriens oder in die Steppen Zentralasiens nach Kasachstan und Usbekistan geschafft. Viele überlebten die tagelangen Transporte nicht, Familien wurden auseinandergerissen, und die Männer, die an der Front für die Rote Armee kämpften, wussten nicht, dass ihre Angehörigen aus der Heimat vertrieben waren.
Aufgrund solcher Erfahrungen sei es wichtig, den Zusammenhalt zu pflegen, ähnlich wie es bei den Deutschen Spätaussiedlern der Fall war. Die Großfamilie mit den Verwandten und der Kontakt zu Bekannten und Freunden habe seit jeher eine große Bedeutung. „Wir feiern auch gerne und bei einer Hochzeit können locker mal 500 Gäste zusammenkommen.“ Dabei werden auch die traditionellen Trachten angelegt, es wird getanzt, musiziert und das Nationalgericht „Tschiburek“, eine mit Lammfleisch gefüllte halbrunde Teigtasche genossen.
Im Gespräch gibt Rushena noch weitere Einblicke in die sozialen Verhältnisse: Die Großeltern werden hoch geachtet, sie haben beim Essen einen Ehrenplatz und ihnen zu widersprechen ziemt sich nicht. Die Pflege der älteren Familienmitglieder übernehmen selbstverständlich die Angehörigen. Es wäre undenkbar, sie in ein Heim zu geben. Auch sei es eine selbstverständliche Verpflichtung der Nachkommen, die Gräber der Verstorbenen zu erhalten und zu pflegen.
Die Krimtataren sind überwiegend Muslime und gehören der sunnitischen Glaubensrichtung an. Allerdings werde die Ausübung sehr liberal gehandhabt, ohne Kopftuchgebot und Verschleierung. Sie selbst trage kein Kopftuch und pflege auch sonst eher den hierzulande üblichen Lebensstil: Essen am liebsten italienisch, Sport gerne mit den Inlinern und Theater ab und zu, wenn das Geld reicht. Ansonsten gibt sie in ihrer Freizeit für Flüchtlingskinder Deutschunterricht und liest gerne Bücher mit geschichtlichem Bezug.
Bei aller Tradition, die für die Identität eines Volkes sehr wichtig sei, sehe sie sich auch als Teil der Europäischen Kulturkreises.
„Man mag über Musikrichtungen geteilter Meinung sein, aber der Gewinn des Eurovision Song Contest in diesem Jahr durch die Krimtatarin Jamala habe bei ihren Landsleuten große Begeisterung ausgelöst und die Hoffnung genährt, irgendwann in der Heimat als Teil eines freien Europas leben zu können und einen respektierten Platz in der Völkergemeinschaft zu haben.“
Im Anschluss an die Zeit in Gemünden wird Rushena ihr Praktium noch drei Wochen lang im Berliner Büro des Bundestagsabgeordneten fortsetzen. Danach strebt sie den Masterabschluss an und möchte noch einige Jahre in Deutschland arbeiten, um dann, soweit möglich, wieder auf die Krim zurückzukehren.
Krimtataren
Die Krim ist eine Halbinsel im nördlichen Schwarzen Meer. Die Fläche beträgt 26 844 Quadratkilometer, die Einwohnerzahl lag im Januar 2014 bei 2,35 Millionen. Nach diesen Angaben ist die Krim nach Größe und Einwohnerzahl etwa mit dem Bundesland Brandenburg vergleichbar.
Bereits im Altertum war die Krim besiedelt, die Herrschaft wechselte immer wieder: Unter anderem beherrschten Griechen, Sythen, Römer, Goten, Hunnen, Mongolen, Venezianer, Osmanen und schließlich die Russischen
Zaren das Land, das später Teil der Sowjetrepublik – und später selbständigen – Ukraine wurde.
Die im Februar 2014 mit russischer Unterstützung betriebene Abspaltung von der Ukraine und Eingliederung nach Russland wird in öffentlichen Darstellungen vielfach als Annexion bezeichnet und auf internationaler Ebene mehrheitlich nicht anerkannt.
Die Krimtataren sind eine auf der Halbinsel Krim lebende muslimische, turksprachige Ethnie. Im zweiten Weltkrieg wurden sie, wie auch andere Ethnien, der kollektiven Kollaboration mit Nazideutschland bezichtigt und nach Sibirien und Zentralasien deportiert.
Offiziell rehabilitiert wurden die Krimtataren 1967 und viele kamen zurück. Heute haben sie an der Bevölkerung einen Anteil von etwa 14 Prozent.