Früher war alles besser. Alles sicher nicht, aber das Schlittenfahren in Karlstadt ging auf jeden Fall besser. Denn es war möglich, von der Kuppe des Saupurzels bis zur Bodelschwinghstraße in einem Rutsch durchzufahren - wenn die Bedingungen stimmten.
Die Kuppe des Saupurzels war vor einem halben Jahrhundert noch nicht so verbuscht wie heute. Also konnte ganz oben gestartet werden. Nach den ersten beiden Steilstücken folgte ein gemächlicher Abschnitt - am Standplatz der Segelfliegerwinde vorbei. Zackiger wurde es wieder auf der langen Haupt-Schlittenbahn bis an den Fuß des Saupurzels. Bei optimalen Schneeverhältnissen war es aber möglich, noch weiter zu rodeln. Denn um 1970 herum gab es das Baugebiet östlich der Bodelschwinghstraße noch nicht. Auf der Linie des heutigen Heidewegs verlief ein Feldweg. Wenn es auf den Schnee geregnet hatte und die Piste vereist war, genügte das geringe Gefälle, um bis zur Bodelschwinghstraße zu gleiten.
Nur die vorderen kamen beim "Bob" ganz unten an
Sobald Schnee lag, machten sich ganze Heerscharen von Kindern auf den Weg. Die Babyboomer waren gerade um die zehn Jahre alt, also im besten Schlittenalter. Es herrschte so reger Betrieb auf der Schlittenbahn, dass spekuliert werden musste, wann der beste Moment für den Start war. Oder man brüllte "Bahn frei" und fuhr los.
Gerne ließen große Brüder beim "Baucher" ihre kleineren Geschwister auf dem Rücken sitzen. Das nannte sich dann "Gockel" oder "Panzer". Eltern waren auf der Piste nicht zu sehen. Die brauchte man nicht. Und erst recht wurde niemand mit dem Auto zum Wintersport chauffiert. Auch gab es noch keine Plastikschlitten. Verbreitet waren die klassischen Holzschlitten mit der Aufschrift "Davos".
"Machste mit bei em Bob?" Diese Frage war auf dem Saupurzel öfter zu hören. Bob bedeutete, dass sich mehrere Schlittenfahrer aneinander hängten. Dazu musste "Baucher" gefahren werden. Die Füße wurden dann in den Schlitten des Hintermanns eingehängt. Der Rekord bei einem solchen "Bob" dürfte bei zehn Mann gelegen haben. Dann allerdings schlenkerte das Ende der Schlittenschlange so stark, dass sie irgendwann auseinanderriss und die hinteren Fahrer umkippten, während nur noch die vorderen bis ganz runter kamen.
Die Karlstadter Skisprungschanze war eine Herausforderung
Eine Herausforderung war die Skisprungschanze. Die war definitiv nicht geeignet für den Schlitten. Doch neben der großen gab es auch eine kleine Schanze. Besonders am Fuß des Saupurzels ging so mancher Schlitten zu Bruch. Dort verlief der Feldweg mit seinen beiden tiefen Fahrspuren quer zur Schlittenbahn. Für die Umstehenden war es immer ein Spektakel, wenn zwei größere Fahrer mit ihrem Gewicht darüberpolterten. Wenn die Holzschlitten nicht komplett die "Grätsche" machten, so brachen doch "gerne" die Latten-Enden ab.
Es gab am Saupurzel aber auch die Fraktion der Skifahrer. Die galten unter den Schlittenfahrern als die Wohlhabenden, weil sie sich eine Skiausrüstung leisten konnten. Die beiden Lager waren ein Stück weit verfeindet. Denn die Skifahrer präparierten mühevoll ihre Piste, indem sie den Schnee mit ihren Skiern festtraten. Wehe, wenn sich einer erlaubte, dort mit dem Schlitten zu fahren. Die Kufen zogen dann Spurrillen in die Piste und machten sie "kaputt". Das gab mächtig Ärger.
Immerhin gab es so viele "Wohlhabende", dass in einem schneereichen Winter ein Privatmann sogar einen Skilift aufbaute - angetrieben mit einem Hako. Mindestens einmal wurde auch ein Langlaufrennen rund um den Saupurzel veranstaltet und ein Abfahrtsrennen von der Kuppe bis an den Fuß am heutigen Berliner Ring.
Einige hatten die Lage unterschätzt und sind in einem hohen Bogen über den Berliner Ring geflogen und im gegenüberliegenden Zaun (einer auch mal in einem Stromkasten) gelandet.