
Vor fünf Jahren ging es los, ganz plötzlich. Da war sie Ende 70, er gerade 80 Jahre. Das Ehepaar* aus dem Landkreis Main-Spessart will gerade von einer Abendveranstaltung im Ort gehen, man hat sich informiert und mit Bekannten gequatscht. Der Nachbar sitzt einen Tisch weiter, ruft ihnen zu, dass er mit heim läuft. Sie stehen auf, ziehen ihre Jacken an und rufen ein „Macht's gut!“ zum Tisch. Die Frau nimmt die Zettel, die ausgeteilt wurden, will sie in ihre Handtasche stecken.
Es klappt nicht. Für einen kurzen Moment gehört ihr Körper nicht mehr ihr. Ihre Hand verliert den Zettel, sie verdreht die Augen. Dann ist alles wieder normal. Sie gehen nach Hause.
„Sie hat tief geschlafen in dieser Nacht. Und lange, viel länger als normal“, erinnert sich der Ehemann heute, fünf Jahre später. Er selbst hat kaum ein Auge zugetan. Was war los mit ihr? Warum entglitt ihr alles, wenn auch nur für einen kurzen Moment? Er grübelt und entscheidet: „Wir gehen zum Arzt.“ Der drängt zur Eile, schickt die beiden nach Lohr ins Krankenhaus, sie muss in die Röhre. Diagnose: Schlaganfall – ein ganz kleiner. Kurz, so lange, wie es dauert, bis ein Blatt Papier fällt.
Und doch hat er vieles zerstört.
Die Demenz beginnt langsam. Sie will den Fernsehsender umschalten, programmiert das ganze Gerät um. Er bittet den Sohn, es zu richten. Sie will kochen, schaltet den Herd an, die Abdeckung der Kochplatten beginnt zu glühen. Er schraubt sie ab. „Sie hat registriert, dass was nicht stimmt“, sagt er heute. „Aber sie konnte es nicht mehr steuern.“
Dann der nächste Schicksalschlag: Sie fällt hin, Oberschenkelhalsbruch. Narkose, Operation, Reha. „Der Arzt hat gleich gesagt, dass das alles verschlimmern kann“, erinnert er sich. Der Arzt behält recht. Als sie wieder daheim ist, beginnt für ihn ein Vollzeit-Job. Schlagartig ist die Demenz so fortgeschritten, dass sie nichts mehr ohne Hilfe kann.
Seitdem gliedert ihre Krankheit sein Leben: „Ich stehe um 6 Uhr auf, erledige ganz leise Hausarbeiten, damit sie nicht aufwacht.“ Später kommt die Sozialstation, übernimmt einen Teil der Pflege. Währenddessen macht er das Frühstück. Dann setzt er seine Frau an den Tisch in der Stube und gibt ihr das Frühstück. Mal geht es schnell, mal dauert es anderthalb Stunden. Er füttert sie. „Danach setzte ich ihr die Brille auf und lege die Zeitung hin.“ Sie liest nicht mehr. „Aber sie mag doch die Bilder.“ Er blättert für sie um.
Er macht Mittagessen, füttert sie wieder eine Stunde lang. Dann setzt er sie in den Fernsehsessel und putzt die Wohnung, wäscht, bügelt. „Das habe ich in den letzten Jahren erst gelernt“, sagt der über 80-Jährige. „Meine Generation hat die Arbeiten klar unter sich aufgeteilt: Das Geschäft erledigt der Mann, die Frau kümmert sich ums Haus. Fertig.“
So war es 50 Jahre lang. Kurz vor dem Schlaganfall feierte das Paar noch Goldene Hochzeit mit der ganzen Familie. Ein Teil der Familie wohnt im Haus, viel Arbeit können sie ihm nicht abnehmen. Laut Monika Englert von der Caritas-Sozialstation in Karlstadt ist das ein häufiges Phänomen: „Meistens bleibt die Pflege an einem hängen“, sagt sie. Mal sei das wie hier der Ehepartner, immer seltener sind es die eigenen Kinder: „In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich da schon viel geändert. Der demographische Wandel macht sich bemerkbar: Immer weniger Kinder leben noch im gleichen Ort wie die Eltern und können sie deshalb auch nicht so leicht pflegen."
Außerdem habe sich in den letzten Jahren auch in Sachen Berufstätigkeit viel geändert: „Vor 20, 30 Jahren war fast immer mindestens eine Frau daheim, die hat sich dann auch um ältere Familienmitglieder gekümmert.“ Das ist heute anders, ambulante Dienste werden immer mehr in Anspruch genommen, die Zeit fehlt vielen jungen Leuten.
„Die arbeiten, was sollen sie auch anderes machen. Ich kümmere mich fast alleine um meine Frau“, sagt auch der Ehemann. Es ist eher Stolz, der bei diesem Worten durchschimmert, kein Verdruss oder Enttäuschung über die eigenen Kinder. Er kann es schaffen, er schafft es. Das hält ihn stark – und fit.
„Wir sehen das oft“, sagt Monika Englert von der Sozialstation in Karlstadt. „So lange pflegende Ehepartner nicht schwach werden dürfen, weil sie für den anderen mitsorgen müssen, werden sie es auch nicht.“ Trotzdem, so Englert, muss es Grenzen geben – „dann, wenn der eigene Körper streikt.“ Geht es irgendwann nicht mehr anders und der Partner muss ins Heim oder stirbt gar, „fallen viele in ein großes Loch – aus dem sie nicht immer wieder raus kommen.“ Es ist ein Phänomen, wissenschaftlich bewiesen, dass nach dem Tod des Ehepartners der andere schnell abbaut, manchmal nicht mehr lang lebt.
Daran denkt er nicht, dafür hat er keine Zeit. Ob er mit der Situation hadert? Damit, dass er „nur noch raus kann, wenn jemand anderes da ist“? Damit, dass er sein Hobby, den Gesangverein aufgegeben hat? 60 Jahre war er dort aktiv. „Ich darf nicht hadern, also tue ich es auch nicht. Für mich war immer klar: Ich bring sie nicht ins Heim. Sie würde es für mich genauso tun.“ Dort würde sie schnell sterben, das weiß er. „Keiner könnte sich so kümmern, hätte so viel Zeit wie ich.“
Seine Stimme wird eher stärker und stolzer, wo man sie zu brechen erwarten würde: „Wir haben gesagt: In guten wie in schlechten Zeiten. Die guten sind vorbei, aber die schlechten bekommen wir jetzt auch noch gemeinsam rum.“
Das Wort Liebe fällt nicht, wenn er vom Alltag erzählt. Liebe ist wie Trauer oder Wut kein Handlungsweiser. „Ich bin nicht traurig, was brächte es mir? Und auch nicht wütend – auch wenn meine Frau mich manchmal überfordert. Was soll sie machen? Sie ist krank. Und ich bin da.“ Er sagt: „Ich steh vor nackten Tatsachen.“ Realismus, danach handelt er.
Es ist eine Stärke, die auch Englert fasziniert. „Wenig Angehörige gehen so an die Sache ran“, sagt sie. „Manche gehen daran kaputt. Mache werden depressiv oder unsagbar wütend auf den Partner. Und manche, wie er, die nehmen das Leben, wie es kommt.“
Während er das Heute nicht an der Vergangenheit misst, lebt sie komplett in dieser. „Manchmal“, sagt er, „erzählt sie früh, sie fährt nach Würzburg.“ Sie ist dann den ganzen Tag dort, geht in Läden, die es nicht mehr gibt, flaniert. Währenddessen sitzt sie daheim im Sessel. Wenn er sie am Abend fragt, wie ihr Tag war, dann lacht sie und erzählt von der wunderschönen Residenz.
Er lacht dann mit, „wir lachen viel, was sollen wir heulen?“ Was in ihr vorgeht, weiß er nicht. Ihn erkennt sie meistens noch, andere Menschen fast nicht mehr. „Sie kann sich noch besser an manches Detail aus der Vergangenheit erinnern als ich“, sagt er. Da diskutieren sie auch schon mal drüber. „Am Ende hat sie recht.“
Und er? Wie soll es weiter gehen? Was ist, wenn er eher stirbt? „Ich muss noch etwas durchhalten“, ist seine knappe Antwort. „Wenn's die nächsten 50 Jahre nicht schlechter wird, haben wir das Gröbste.“
*Der Ehemann möchte seinen Namen und seinen genauen Wohnort nicht der Zeitung lesen. Er sagt: „Ich möchte weder für etwas bemitleidet, kritisiert oder bewundert werden.“
Sozialstation: Das zahlt die Pflegekasse
Derzeit gibt es die Pflegestufen I bis III, außerdem – speziell für Demenzkranke – die Pflegestufe 0. Die Pflegestufen beschreiben das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit. Welcher Patient welche Pflegestufe bekommt, legt der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) nach genauen Vorgaben fest.
Für die Pflegestufe I muss der pflegerische Zeitaufwand bei mindestens 90 Minuten liegen, davon mindestens 45 Minuten für Körperpflege. Dann gibt es von der Pflegekasse zwischen 468 Euro (ohne Demenz) und 689 Euro (mit Demenz oder psychischen Erkrankungen) im Monat für Leistungen der Sozialstation.
Für die Pflegestufe II muss der Zeitaufwand bei mindestens drei Stunden täglich liegen, davon mindesten zwei Stunden Körperpflege. Dann zahlt die Pflegekasse 1144 Euro beziehungsweise 1298 Euro.
Für die Pflegestufe III muss der Zeitaufwand bei mindestens fünf Stunden liegen, wobei davon mindestens vier Stunden für Körperpflege anfallen müssen. Dann werden 1621 Euro fällig.
Zusätzlich gibt es die Pflegestufe 0 für Menschen mit Demenz, aber ohne sonstigen Pflegebedarf, der eine Pflegestufe I rechtfertigt. In diesem Fall zahlt die Pflegekasse 231 Euro.