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GEMÜNDEN
Overeaters: „Wir sind dem Essen gegenüber machtlos“
Unhappy Teenage Girl Sitting On Floor Looking At Bathroom Scales       -  Auch Menschen mit Idealfigur, wie die Frau auf unserem Symbolbild, können unter gestörtem Essverhalten leiden. Das ist für Nicht-Betroffene schwer zu verstehen. Hilfe bietet die neugegründete Gruppe Overeaters Anonymous in Gemünden an.
Foto: Thinkstock | Auch Menschen mit Idealfigur, wie die Frau auf unserem Symbolbild, können unter gestörtem Essverhalten leiden. Das ist für Nicht-Betroffene schwer zu verstehen.
Klaus Gimmler
 |  aktualisiert: 03.12.2019 09:14 Uhr

Petra G. und Heike T. (Name von der Redaktion geändert) sind sehr zufrieden. Es ist ihnen am vergangenen Samstag gelungen, eine Selbsthilfegruppe der Overeaters Anonymous in Gemünden zu gründen. Diese Gruppe ist offen für alle Betroffenen in Main-Spessart, die unter einer Störung ihres Essverhaltens leiden – egal, ob sie extrem dick oder dünn sind, oder ob sie ihr Gewicht über Erbrechen oder mit Abführmitteln regulieren. „Wir sind dem Essen gegenüber machtlos.“ Dieses Eingeständnis der eigenen Krankheit ist allerdings eine Voraussetzung für die Teilnahme – und nach Ansicht der Selbsthilfegruppe auch die Voraussetzung, mit der Krankheit einigermaßen leben zu können.

Keine Heilung der Krankheit

Denn nach Ansicht der Overeaters ist eine Heilung der Krankheit nicht möglich, allenfalls könnten die Betroffenen lernen, damit umzugehen. „Mein Essverhalten war immer gestört“, sagt beispielsweise Heike T., die kein Teenager mehr ist. Bei ihr hatte sich das klassische Krankheitsbild einer Bulimie mit Hungern, Fressattacken und dem anschließenden Erbrechen heraus gebildet. Es sei jahrelang ihre einzige Freude gewesen, wenn die Waage weiter nach unten ging.

Dies ist für Nicht-Betroffene kaum zu verstehen. Wie kann man sich freuen, wenn man weiter an Gewicht verliert – und dies in vollem Bewusstsein, dass eine weitere Gewichtsabnahme lebensgefährlich ist? Heike T. zuckt die Achseln. Nein, eine Erklärung dafür gebe es nicht. Aber das Suchtverhalten sei als Lustgefühl fest in ihrem Kopf gespeichert gewesen.

Radikal gehungert

Ähnlich ist es Petra G. ergangen. Schon als Teenager habe sie sich zu dick gefühlt. Sie hungerte radikal. Das Gegessene wieder erbrochen habe sie nicht, dafür aber starke Abführmittel benutzt, die den Darm zerstören. Es klingt verrückt, aber sie habe damals ihren Wert alleine aus ihren Hungerkünsten gezogen.

Heute machen beide Frauen einen gefestigten Eindruck, ihr Aussehen ist gepflegt, ihr Blick klar und sie können sich gut ausdrücken. Aber als geheilt bezeichnen sich beide nicht. „Ich habe mich das letzte Mal vor zwei Jahren erbrochen“, sagt Heike T. Das sei ein Erfolg, aber „ich denke von Tag zu Tag“. Auch heute wolle sie geregelt essen, aber ob sie das in den nächsten zehn Jahren schaffe, wisse sie nicht.

Respekt vor der Erkrankung

Beiden ist deutlich der Respekt vor ihrer Krankheit anzuhören. Ähnlich wie bei den Anonymen Alkoholikern, für die auch ein Schluck Alkohol zu viel sein kann, müssen sie beide auf ein bewusstes und geregeltes Einnehmen der Mahlzeiten achten. „Gestern habe ich auf einer Geburtstagsfeier ganz langsam ein Stück Kuchen gegessen“, sagt Petra G. als Beispiel. Hätte sie es hineingeschlungen, wäre die Gefahr groß, wieder in ihre alten Muster zu verfallen. „Ich werde nicht satt, signalisiert dann der Körper.“ Daraus könne sich ein Prozess entwickeln, der sich nicht mehr stoppen lässt.

Würzburger Selbsthilfegruppe

Geholfen hat beiden die Selbsthilfegruppe Overeaters Anonymous. Da finden Betroffen zusammen, die von ihrem Suchtverhalten erzählen. Die Selbsthilfegruppe stellt keine Essenspläne auf, sondern orientiert sich in zwölf Schritten an einem Genesungsprogramm, das die Essstörung als körperliche, geistige und seelische Krankheit begreift.

Ganz wichtig ist das gegenseitige Verständnis. „Denn es tut gut, verstanden zu werden“, sagen beide, da ihre Sucht sei für Nicht-Betroffene kaum zu begreifen ist. „Auf unseren Treffen erzählen wir uns, wie wir uns fühlen.“ Es gebe keine Ratschläge mit erhobenen Zeigefinger. Jeder werde als Mensch mit seiner Krankheit akzeptiert.

Gute Atmosphäre des Treffens

Bislang hatten sich Heike T. und Petra G. mit noch einer Betroffenen aus dem Landkreis Main-Spessart den Overeaters Anonymous in Würzburg angeschlossen. In jüngster Zeit ist aber die Idee gereift, eine eigene Gruppe für den Landkreis Main-Spessart anzubieten. Der erste Schritt dazu ist gemacht. Zur Gründungsversammlung am Samstag im Pfarrheim Adolph-Kolping in Gemünden fanden weitere drei Leute aus der Umgebung hinzu, sodass sie jetzt schon zu sechst sind. Alle hätten die gute Atmosphäre des Treffens gelobt und wollen wiederkommen. Auch weitere Betroffene aus Main-Spessart können sich der Gruppe gerne anschließen.

Overeaters Anonymous Gemünden

Für Menschen, die unter zwanghaftem Essverhalten leiden, hat sich die Selbsthilfegruppe Overeaters Anonymous gegründet. Das Leiden kann sich in verschiedenen Formen äußern. Deutlich sichtbar wird es bei starkem Über- oder Untergewicht. Aber auch Menschen mit Idealfigur können unter zwanghaftem Essen leiden. In diesem Fall wird das Gewicht durch Erbrechen (Bulimie), übermäßigen Sport oder Abführmittelmissbrauch kontrolliert.

Scham, Verzweiflung und Ohnmachtsgefühle gegenüber dem Essen werden zur großen Belastung für die Betroffenen. Um das zwanghafte Essverhalten vor den Mitmenschen zu verbergen, werden soziale Kontakte zunehmend gemieden. Diese Isolation verstärkt die Probleme noch mehr. Das zwanghafte Essverhalten ist ein Versuch, unangenehme Gefühle wie Wut, Angst, Verzweiflung oder Lebensschmerz zuzudecken.

Die Selbsthilfegruppe basiert zwar auf spirituellen Prinzipien, es handelt sich aber nicht um ein religiöses Programm. In ihr sind Menschen mit unterschiedlichen Religionen, aber auch Atheisten und Agnostiker vertreten. Jeder ist willkommen. Es gibt keine Mitgliedsbeiträge oder Gebühren. Die Selbsthilfegruppe lebt von Spenden.

Die Treffen der neuen Gruppe in Gemünden sind immer samstags von 18.30 bis 19.30 Uhr im Pfarrheim Adolph Kolping in der Kolpingstraße 5. Jeder erste Samstag im Monat ist ein sogenannter offener Treff. Dazu können auch nicht-kranke Interessierte oder Familienangehörige kommen. Eine Anmeldung ist nicht nötig, aber möglich beim Selbsthilfebüro Main-Spessart unter Tel. (0 93 53) 98 17 86.

 
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