
1990 feiern Jacqueline und Mario Remler zum ersten Mal den Jahreswechsel im Westen des gerade wiedervereinigten Deutschlands – im Frammersbacher Ortsteil Schwartel. Sie stammen aus dem Grenzgebiet zwischen Sachsen und Sachsen-Anhalt in der Nähe von Leipzig. Die Frage, was für sie anders war, was besser oder schlechter, hat für die beiden keine große Bedeutung. Sie erzählen einfach aus ihrem Leben und davon, dass sie damals mit Anfang 20 jung waren, neugierig und bereit für ein Abenteuer.
"Feuerwerk war bei uns auch üblich. Für eine schöne Rakete musste man drei Stunden vor Ladenöffnung anstehen", sagt Mario Remler zum Thema Silvester. Ansonsten: Feiern mit Freunden. Hier wie dort. Und Freunde haben die Remlers schnell gefunden in Frammersbach. "Wir sind kontaktfreudig", erklärt Jacqueline Remler. Daran gibt es im Gespräch mit der Redaktion keinen Zweifel.
Weihnachten fahren sie immer zu den Eltern, Geschwistern und der Verwandtschaft ins Leipziger Umland, nach Kitzen und Kaja, wo sie geboren und aufgewachsen sind. Nur dieses Jahr ist die Reise ausgefallen, wegen Corona. Neujahr feiern sie nach ihrem Umzug von Anfang an in Frammersbach.
Dort wollten sie auch 30 Jahre Wiedervereinigung mit einer Ost-Party feiern, wie 2010 die 20 Jahre. Mit Rache fäng (Ragout fin) und Soljanka (säuerlich-scharfe Suppe mit Wurst), mit Kittelschürze und Anzug aus den 70ern. "Das ist halb Fasching", lacht Jacqueline Remler (52). Auch das Honecker-Porträt hätten sie zur Feier des Tages wieder aufgehängt. Und wenn es nach der Fete nicht gleich abgehängt wird, irritiert das Besucher, amüsiert sich Mario Remler.
Bei Montagsdemos
"Wir haben das schon gewollt", sagt er über die Wiedervereinigung, "aber damit gerechnet haben wir nicht." Sie seien auf den Montagsdemos in Leipzig gewesen. Den meisten sei es um Benzin, Reifen, Reisen und solche Dinge gegangen. "Wir wollten hauptsächlich eine bessere DDR."
Mit der Politik seien sie in ihrer ländlichen Umgebung wenig in Berührung gekommen. "Wir sind evangelisch, sind in die Kirche gegangen, zur Christenlehre und sind konfirmiert." Weihnachten sei ganz besonders gewesen, er als Hirte, sein Vater der Schäfer beim Krippenspiel. "Bei der Jugendweihe waren wir auch. Wir waren fünf Kinder und mein Vater pragmatisch." Auf diese Weise hätten sie ihre Ruhe gehabt.
Als am 9. November 1989 die Mauer zwischen den beiden Teilen Deutschlands fällt, bleiben Jacqueline und Mario Remler zunächst in ihrem Dorf in der Nähe von Leipzig. Erst wird am 11.11. Fasching gefeiert. "Wir haben uns gesagt, in den Westen können wir auch am Montag noch fahren", erinnert sich Jacqueline Remler.
Mit der Grenzöffnung kommt bei den beiden Neugier auf. Jacqueline Remler hat eine Oma in Paderborn, die immer mal gesagt habe: "Mädchen, ich würde dir das gerne mal zeigen." Von Mario Remler lebt eine Tante in Würzburg. Er besucht sie und bittet deren Sohn, seine Kumpels für ein Treffen zusammenzutrommeln, um möglichst viele Stimmen über das Leben im Westen einzufangen. Seine Frau verbringt einige Tage bei einer Freundin im Westteil Berlins, um sich Eindrücke zu verschaffen. Das Ergebnis ihrer Erkundungen: Wer arbeiten will, hat gute Chancen im Westen.
Mit Trabi und Schulatlas
Im Januar 1990 startet Mario Remler, ausgestattet mit Brotdose und – für die Generation Navi kaum vorstellbar – Schulatlas, seinen Trabi. Sein Ziel: die Erstaufnahmeeinrichtung für Übersiedler aus der DDR in Gießen. Seine Frau und die 1987 geborene Tochter Maria sind noch nicht dabei. In eine Sammelunterkunft wollten sie mit Kleinkind nicht ziehen.
Die nächste Station für den jungen Vater ist eine Gemeinschaftsunterkunft in Bad Brückenau-Eckarts. Von dort aus sucht er über das Arbeitsamt, mit Hilfe des Branchentelefonbuchs und der Telefonzelle in der Region nach einem Job als Ofenbauer. Bedingung für den potenziellen Arbeitgeber: die Vermittlung einer Wohnung für die Familie.
Nur mit Wohnung
Frammersbach erweist sich als Glücksfall. In der Marktgemeinde gibt es Ofenbaufirmen. Sein damaliger Chef kümmert sich um eine Wohnung in der Nähe. Frau und Tochter kommen im Juli 1990 nach. Jacqueline Remler findet als Schneiderin Arbeit. "Anfangs war es schon ein großes Abenteuer", sagt Mario Remler. Wenn sie zur Familie Richtung Leipzig fahren, sind das gemischte Gefühle. "Machen sie die Grenze wieder zu?", habe sie sich manchmal gefragt, sagt die 52-Jährige. Die deutsche Einheit wird erst am 3. Oktober besiegelt.
"Die ersten Jahre waren manchmal komisch", erzählt sie. Sie habe in einer Gaststätte gearbeitet. "Bei uns gab es Bier oder es gab kein Bier", erinnert sie an die DDR. Jetzt gibt es nicht nur Bier. Es gibt zig Sorten, die in jeweils speziell dafür vorgesehene Gläser gefüllt werden müssen. Dabei darf sie sich nicht von den Gästen verunsichern lassen, die ihren Dialekt nachäffen. Auch der Ofenbauer trifft manchmal auf Kunden, die skeptisch sind, ob er sein Handwerk versteht, wenn sie sein Sächsisch hören.
Doch die beiden sind überzeugt, dass sie auch nicht auf der Brotsuppe dahergeschwommen sind und gehen ihren Weg. 1993 kommt die zweite Tochter zur Welt. 2000 ist das Jahr der Entscheidung, das hatten sie so ausgemacht. Bilanz ziehen nach zehn Jahren in Frammersbach, bleiben oder zurückkehren. Mit Anfang 30 hätten sie in ihrer Heimat noch einmal eine Existenz aufbauen können. Sie hatten für ein Haus gespart, erzählt Jacqueline Remler und hätten dort, wo sie herkommen, ein Grundstück gehabt. Eine schöne Seenlandschaft sei entstanden und Leipzig eine attraktive Stadt geworden. Aber eventuell keine Arbeit oder nur auf Montage, steht auf der anderen Seite.
Sie wollen bleiben und zwar im Ortsteil Schwartel. "Das ist ein offenes Volk", finden die beiden. Ihnen wird ein kleines, steiles Grundstück angeboten. Sie kaufen es, bauen mit viel Eigenleistung und der Hilfe von Freunden und Nachbarn ein Haus. Dass sie in Frammersbach Fuß fassen, das hat auch mit Fasching zu tun. Für die beiden ist das etwas Grenzüberschreitendes. "Gefeiert und getrunken wird überall", bringt es Jacqueline Remler auf den Punkt. Politische Witze seien im Osten nicht gegangen. Spaß hätten sie trotzdem gehabt. Und kostümfreudiger seien sie gewesen, die Veranstaltungen mehr Maskenball als Sitzung. Kreativ und erfinderisch habe man sein müssen, weil es vieles nicht gab.
Wurzeln nicht verleugnen
"Aus Scheiße Bonbons machen", zitiert Mario Remler seinen früheren Ausbilder. Das Material, das sie als Ofenbauer bekommen hätten, sei der Ausschuss vom Ausschuss gewesen. Mit Einfallsreichtum und dank Tauschhandels sei doch immer etwas daraus geworden. "Es war geselliger, auch die ersten Jahre in Frammersbach noch. Da haben wir uns zum Nähen zusammengesetzt", sagt seine Frau. Jetzt würden die Kostüme fertig bestellt.
Schon wenige Jahre nach ihrem Zuzug seien sie gefragt worden, ob sie Prinzenpaar werden möchten. "Da haben wir erst mal abgewunken. Erst mal ankommen", sagt Mario Remler. Erst 2009 treten sie die närrische Thronfolge an. Als Schotten, wie 1988 in Sachsen, als noch niemand etwas ahnte von der Wiedervereinigung. Sie mögen die schottische Musik und das Mystische Schottlands.
"Unsere Wurzeln wollen wir nicht verleugnen", betont Jacqueline Remler. Heimat ist für sie beides: Ihr jetziger Lebensmittelpunkt in Frammersbach und der Ort, wo sie geboren wurde, wo sie aufgewachsen ist und eine schöne Kindheit hatte. "Auch wenn man nicht alles gekriegt hat, aber das war früher ja auch im Westen so. Da hätte man zwar alles kaufen können, aber viele hatten das Geld auch nicht dafür. Da ist den Kindern auch nicht gleich jeder Wunsch erfüllt worden."
Wie viele andere Menschen auch, hängen sie an Erinnerungsstücken. Das hat wenig zu tun mit Schönfärberei der DDR. Es sind einfach Dinge, die ihnen etwas bedeuten, durch die Art und Weise, wie sie sie bekommen haben. Mario Remler steht auf die großen alten elektrischen Christbaumkerzen. Und seine Frau auf die bunten, bemalten Kugeln, die sie ertauscht hat.
Den ersten Buntfernseher bringen sie mit und benutzen ihn, bis er kaputt ist. Nach ihren Angaben hat er 4000 Ost-Mark gekostet. Bei einem Monatslohn von 600 bis 800 Ost-Mark haben sie lange dafür gespart.
In der Schule gehänselt
Und jetzt? Ossi oder Wessi? "Wir haben uns integriert, nicht angepasst. Die eigene Meinung ist wichtig", formuliert es Mario Remler. In der Schule seien sie und ihre Schwester gehänselt worden als "die aus der Täterä", erzählt die 27-jährige Tochter Lorain. "Wenn wir im Osten sind, bin ich der Wessi. Wenn ich im Westen bin, bin ich der Ossi." Ihre Mutter sagt: "Früher haben wir uns über die West-Pakete gefreut. Heute freuen wir uns über die Ost-Pakete." Und speziell zur Reporterin: "Wenn Sie noch ein Schlusswort brauchen: Das Herz hat zwei Klappen. Eine schlägt für Sachsen, eine für Schwartel."
