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Lohr
Ökonom entlarvt deutsche Sparmythen: "Sparen ist gut und Schulden sind schlecht"
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, hält die aktuell schlechte Stimmung in Deutschland 'für die größte Hürde für unsere Zukunftsfähigkeit'. Das betonte er bei seinem Vortrag in der Lohrer Stadthalle auf Einladung der Raiffeisenbank Main-Spessart.
Foto: Susanne Schreck | Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, hält die aktuell schlechte Stimmung in Deutschland "für die größte Hürde für unsere Zukunftsfähigkeit".
Bearbeitet von Boris Dauber
 |  aktualisiert: 27.11.2024 11:15 Uhr

Das erschrockene Raunen, das sich am Montagabend in der Lohrer Stadthalle erhebt, dürfte Ökonom Marcel Fratzscher bei seinem Vortrag schon häufig gehört haben. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat seinen 600 Zuhörerinnen und Zuhörern gerade offenbart, dass die ärmsten 40 Prozent in Deutschland gerade einmal 0,3 Prozent des Gesamtvermögens besitzen. "Sie haben praktisch keine Ersparnisse, keine Vorsorge für das Alter oder die Familie", betont der 53-Jährige.

Das reichste Fünftel der Deutschen verfügt dagegen über 84,4 Prozent des Vermögens. Er als Wirtschaftswissenschaftler gehe daher der Frage nach, "was das mit unserer Gesellschaft macht, wenn wir eine so extreme Ungleichheit haben". Die Raiffeisenbank Main-Spessart hatte den Berliner Professor für Makroökonomie und Politikberater für einen Vortrag nach Lohr geholt.

Sparbuch: Geld durch Inflation verloren

Dass dessen Titel "Geld oder Leben" an das Motto der Spessarträuber erinnerte, war Zufall. Fratzscher behandelte stattdessen die Frage, "ob unser irrationales Verhältnis zum Geld die Gesellschaft spaltet". Dabei entkräftete er Mythen, die in Deutschland weit verbreitet sind: Die Annahme etwa, dass "sparen gut ist und Schulden schlecht sind". Wenn das vor Jahren gebaute Eigenheim stetig an Wert gewonnen hat, sieht der Ökonom die für den Hauskredit aufgenommenen Schulden nicht als schlecht an.

Auch das in Deutschland hochgelobte Sparen betrachtet Fratzscher differenziert: Wer sein Vermögen auf dem Sparbuch liegen hat, wo es lange Zeit keine Zinsen gab, habe durch die Inflation Geld verloren. Als bessere Alternativen nannte er langfristige Investitionen in den Aktienmarkt oder in Immobilien. Beide Anlage-Arten sind bei Deutschen aber vergleichsweise unbeliebt. Nur die Hälfte der Bundesbürger habe ein Eigenheim, in Aktien investierten bloß 15 bis 20 Prozent.

Streben nach Stabilität als Gefahr für Zukunftsfähigkeit

Das Streben nach möglichst viel Stabilität sieht Marcel Fratzscher als Problem an. Ihm fehlt in Deutschland zu häufig die "Risiko-Akzeptanz". Wenn laut einer Umfrage zwei von drei jungen Menschen beim Staat arbeiten wollen, weil sie sich maximale Sicherheit wünschen, erkennt der Ökonom darin eine Gefahr für die Zukunftsfähigkeit des Landes. Er erinnert daran, dass der Mittelstand nur so stark werden konnte, weil die Unternehmer Risiken eingegangen sind.

In einer Zeit, in der nach Aussage Fratzschers große Veränderungen zu meistern sind, attestiert er der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft, "erstarrt und depressiv" zu sein. 84 Prozent der Deutschen würden laut einer Umfrage der Universität Bonn damit rechnen, dass es ihnen in den nächsten 20 Jahren schlechter als jetzt geht. Weil Wirtschaft nach Meinung des 53-Jährigen zu "80 Prozent Psychologie ist", plädiert Fratzscher für "eine realistische Einschätzung von Chancen und Risiken".

Da sich die deutsche Wirtschaftsleistung nach Angaben des Ökonomen fast zur Hälfte aus Exporten speist, "beruht unser Wirtschaftsmodell auf Offenheit". Die vom künftigen US-Präsidenten Donald Trump angekündigten Strafzölle von 20 Prozent auf deutsche Produkte machen ihm daher Sorgen. Dass ein großer Teil der Gewinne deutscher Unternehmen in China gemacht wird, veranschaulicht die hohe Abhängigkeit von diesem Markt. "Wir müssen Globalisierung neu gestalten und Unternehmen breiter aufstellen", sagt Fratzscher.

Vertrauensverlust attestiert

Bei der grünen Transformation dürfe sich Europa nicht so viel Zeit lassen und müsse innovativ sein. Den wohl schwierigsten Veränderungsprozess sieht Marcel Fratzscher aber im Sozialen: "Die Politik hat es in den letzten 20 Jahren verpasst, die Menschen mitzunehmen." Diese seien enorm verunsichert, betont der Ökonom. Er nannte das Heizungsgesetz und das einst versprochene Klimageld als Beispiele. Letzteres sollte aus der Kohlendioxid-Steuer finanziert und gleichmäßig an alle Bürger ausgezahlt werden. Wer umweltschonend lebt, sollte stärker davon profitieren. "Wenn kein Vertrauen da ist, investieren Unternehmen nicht und Menschen konsumieren nicht", erklärte Fratzscher die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft.

Ein hohes Optimierungspotenzial sieht der Professor unter anderem bei der Steuer auf Vermögen und Einkommen. Ersteres werde gering, zweiteres extrem stark besteuert, so Fratzscher. "Wir würden ökonomisches Potenzial heben, wenn wir Arbeit – vor allem bei mittlerem und geringem Einkommen – weniger und Vermögen mehr besteuern", betonte er. Auch die geringe Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem verschenke nach Aussage des Wirtschaftsexperten viel Potenzial.

Vorschlag: Steuern senken

Die negative Stimmung hält Fratzscher aktuell für die "größte Hürde für unsere Zukunftsfähigkeit". Er rät am Ende seines Vortrags daher zu Optimismus. Dass dieser aber auch nicht grenzenlos sein darf, wird in der anschließenden Fragerunde deutlich: Auf die Frage aus dem Publikum, was eine neue Regierung erreichen könne, warnt er vor "überzogenen Erwartungen". Die Bürokratie abzubauen und die Infrastruktur zu stärken, dauere lange.

Einen schnellen Impuls für die Wirtschaft verspricht er sich durch Steuersenkungen für Unternehmen und Bürger. Dem stünde aber die Schuldenbremse entgegen. Sie lehnt der Experte aus Berlin nicht grundsätzlich ab, eine Reform würde er sich aber wünschen. Schließlich ist Sparen nicht immer die beste Zukunftsstrategie.

 
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