Wenige Tage vor Kriegsende wurde dem Zellinger Bauern Karl Weiglein das „fliegende Standgericht“ von Major Erwin Helm zum Verhängnis. Wegen zweier kurzer Äußerungen fiel Weiglein in Ungnade. Letztlich ließ ihn Helm hinrichten, und das auf besonders abschreckende Art: An einem Birnbaum gegenüber seines Wohnhauses am Schulplatz wurde Weiglein erhängt. Ausführlich schilderte der Würzburger Lehrer Werner Dettelbacher (1926 bis 2007) für ein Hörstück des Bayerischen Rundfunks von 1980 das Geschehen. Er berief sich auf Zeugenaussagen und Akten des Oberlandesgerichts Bamberg, versuchte aber in dem Hörstück auch die Atmosphäre jener Tage zu vermitteln.
Je näher die Fronten in Ost und West rückten, desto lautstärker sei die Schuld an den ständigen Rückzügen nicht der feindlichen Überlegenheit gegeben worden, sondern dem Versagen der eigenen Leute, beschrieb Dettelbacher die Situation. Feiglinge, Drückeberger und Saboteure würden die eigene Front durchlöchern. „Und Sabotage war schon, wenn jemand seine eigene Brotration vorzeitig aufaß.“
Jedes Dorf sollte um jeden Preis verteidigt werden – gemäß Josef Goebbels Ausspruch: „Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?“ So wurden in Zellingen in der aussichtslosen Lage der letzten Kriegstage – eben war Würzburg bombardiert worden – Panzersperren gebaut und die Brücke gesprengt.
Der Bauer Karl Weiglein, Jahrgang 1886, war mit seinen 58 Jahren dem Volkssturm zugeordnet worden, der die Heimat bis zum letzten Blutstropfen verteidigen sollte – wie es der Zellinger Lehrer und Kompanieführer Alfons Schmiedel bei einem Appell forderte. Kreisverteidigungskommissar war der in Zellingen ansässige praktische Arzt Dr. Dr. Robert Mühl-Kühner, der sich bemühte, dass „sein“ Volkssturm das Soll an Übungen und Appellen übererfüllte. Für Weiglein jedoch waren dessen Forderungen Gift. Weiglein war wohl gesellig und hitzig. Überliefert ist sein Kommentar zur Sprengung der Brücke: „Die Leut, die die Brücke sprenge, die ghörn aufgehängt.“ Lehrer Schmiedel berichtete dies dem Kreisverteidigungskommissar Mühl-Kühner, was zunächst ohne Folgen blieb. Ebenfalls zunächst folgenlos blieb eine Bemerkung Weigleins bei einem Appell. Mühl-Kühner hatte gedroht, jeden vors Standgericht zu bringen, der kneift oder die Abwehr sabotiert. Das quittierte Weiglein mit einem „Oho!“ Mühl-Kühner schrie etwas von „Meuterei und Wehrkraftzersetzung“, doch Weiglein kam ungeschoren davon. Irgendwann aber würde er einen größeren Fehler machen.
Kurz darauf, in der Nacht zum Gründonnerstag, 29. März 1945, waren zwei Panzersperren auseinandergezogen worden. Obwohl das keiner alleine hatte bewerkstelligen können, stand für Mühl-Kühner fest, dass nur „der Weiglein“ dies getan haben könne. Am Nachmittag dieses Gründonnerstags kam das berüchtigte „fliegende Standgericht“ des Majors Helm nach Karlstadt.
Mühl-Kühner erzählte ihm von der Beseitigung der Panzersperren in Zellingen. Weiglein komme infrage, da er sich auch gegen die Brückensprengung gewandt habe und mit seinem ,Oho!' beim Appell die Moral des Volkssturms untergraben habe. Für Helm war klar, dass hier ein Exempel statuiert werden müsse. Er benannte einen Leutnant zum Vorsitzenden und einen NS-Führungsoffizier zum Ankläger sowie zwei Zellinger Volkssturmmänner zu Beisitzern. In der Zellinger Polizeistation kam es zur „Verhandlung“. Man war erst nachts dorthin gefahren, da tagsüber feindliche Flugzeuge unterwegs waren. Schon vorher hatte Helm sich vom Seiler Stricke bringen lassen. Als ihm die „Verhandlung“ zu lange dauerte, soll er ungeduldig ins Zimmer gestürmt sein und einen kurzen Prozess gefordert haben.
Nach Mitternacht wurde Weiglein auf die Straße gezerrt. Um den Hals hatte er ein Plakat hängen mit der Aufschrift: „Ich wurde hingerichtet wegen Wehrkraftzersetzung.“ Verzweifelt rief er: „Ich hab doch nix getan! O Dora, die hängen mich auf!“ Seine Frau wurde gezwungen zuzusehen, wie er gegenüber vom Wohnhaus am Birnbaum aufgehängt wurde. Ein 19-jähriger Gefreiter aus Rödelmaier musste die Hinrichtung vollziehen, wofür er jeweils 50 Mark oder Schnaps erhielt. In dem Fall habe Helm selbst noch mit am Strang gezogen, berichtet Dettelbacher.
Karl Weiglein hing Karfreitag und Karsamstag am Baum. Am Ostersonntag hatte ihn jemand abgenommen und bei Laudenbach verscharrt. Nach Kriegsende exhumierte man Weiglein und setzte ihn in Zellingen bei.
1952 wurde der Fall am Schwurgericht Würzburg verhandelt. Der NS-Führungsoffizier bekam wegen zweier Verbrechen des Totschlags sechs Jahre Zuchthaus, der Leutnant wegen eines Verbrechens des Totschlags drei Jahre Gefängnis. Mühl-Kühner kam ins Lager nach Regensburg, floh aber 1947 oder wurde entlassen. Er flüchtete nach Spanien, stellte sich aber 1966 selbst. Die Große Strafkammer lehnte nach der Voruntersuchung im Frühjahr 1967 ein Hauptverfahren ab. Sie war davon überzeugt, dass Robert Mühl-Kühner den Tod des Zellinger Landwirts nicht gewollt hatte, im Gegenteil darüber sehr bedrückt war, wie sich Zeitzeugen ausdrückten. Helm wurde 1953 in der DDR vom Stadtgericht Berlin wegen zahlreicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, aber am 8. April 1956 begnadigt. Er flüchtete in den Westen, wurde erneut verhaftet und nach Würzburg überstellt. Dort bekam er mit seinem Antrag Recht, wonach niemand für seine Taten zweimal bestraft werden darf. Er lebte später als Buchhalter im Badischen.
Werner Dettelbacher war Lehrer am Würzburger Siebold-Gymnasium, unter anderem für Geschichte und Deutsch. Bei ihm heißt Helm Erich mit Vornamen. Alois Stadtmüller wiederum berichtet in seinem Buch „Maingebiet und Spessart im Zweiten Weltkrieg“ von Erwin Helm. Auch andere Details unterscheiden sich in den Darstellungen, so etwa die Reihenfolge, ob Weiglein nun erst sein „Oho!“ ausgerufen oder erst gegen die Sprengung der Brücke gewettert hatte.
Gedenken an Karl Weiglein
Peter Keller (Foto: Karlheinz Haase) ist einer jener Zellinger Augenzeugen, die den toten Karl Weiglein am Baum haben hängen sehen. Keller war damals sieben Jahre alt, Zweitklässler in der Grundschule, in deren Nähe Weiglein wohnte und erhängt wurde. „Ich bin mit meiner Großmutter in die Kirche gegangen, als wir den Erhängten sahen.“ Der Bub kannte Weiglein. Unter anderem habe er mit seinem Pferd manchmal für den Großvater einen Acker gepflügt.
„Es war schecklich, dieses Bild vom aufgehängten Weiglein hat sich bei mir bis heute unauslöschlich eingeprägt.“ Keller kommt dieser Eindruck immer wieder in den Sinn, wenn er Brutales im Fernsehen sieht, etwa Kriegsszenen aus dem Nahen Osten, oder wenn er über den Zellinger Schulplatz läuft, an dessen Rand der Birnbaum stand. Bei Keller, der mehrere Wahlperioden Bundestagsabgeordneter war, hat das Erlebnis dazu beigetragen, „dass sich bei mir das Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit gefestigt hat“. In einem Brief an Bürgermeister Wieland Gsell und die Gemeinderäte regt Keller an, über eine würdige Gedenktafel für Karl Weiglein nachzudenken. Der Bürgermeister sagt dazu, das sei auch sein Ansinnen und er sei bereits im Gespräch mit den Verwandten. Er wolle dem Gemeinderat in der nächsten Sitzung einen entsprechenden Vorschlag machen.
Am Sonntag, 29. März, laden der Pfarrgemeinderat und die KAB von Zellingen um 18.45 Uhr zu einem öffentlichen Gedenken an Karl Weiglein auf den Zellinger Friedhof ein.