Wer glaubt, dass sich im Leben eines 104-jährigen Menschen nicht mehr viel verändert, der irrt. Das sieht man an der ältesten Bürgerin Karlstadts Eugenia Czarna, die in Stetten wohnt. Todesnähe und neues Leben waren die bestimmenden Ereignisse für die Greisin, die 1913 im damals polnischen und jetzt ukrainischen Ort Kadloby geboren wurde.
Im Winter 2016/17 war sie so schwer krank, dass sie sechs Wochen lang kein festes Essen zu sich nehmen und ihre Enkelin Wanda Michalcack ihr „Astronauten-Nahrung“ einflößen musste. Zur selben Zeit wurde ihr sechstes Ur-Ur-Enkelkind geboren, ein Geschenk, das nicht zuletzt auch den Mut zum Weiterleben gab. Jetzt feierte sie – leidlich genesen – im Kreis ihrer Familie den 104. Geburtstag.
Nun ist ja an sich schon allein das hohe Alter Eugenias etwas Besonderes, staunenswert aber ist, wie diese betagte Greisin – Stammmutter zweier Kinder, sieben Enkeln, 15 Urenkeln und sechs Urenkeln – mit den Erfahrungen in diesem Jahr umgeht. Diese einfache Frau, kaum des Deutschen mächtig, hat mithilfe ihrer Urenkelin Katharina ein Vermächtnis verfasst, das erschüttert und Hochachtung hervorruft.
Furcht, Hunger und Durst
„Nun ist es wieder so weit, ich bin ein Jahr älter. Am Anfang des Jahres war ich sehr krank. Über mehrere Wochen habe ich nichts gegessen, von allen habe ich mich verabschiedet. Ich war bereit, das Leben hier auf der Erde zu verlassen, aber als ich sah, wie viele um mich weinten, tat mir das leid. Da beschloss ich, noch etwas da zu bleiben. Ich könnte über mein Leben viel erzählen: Ich weiß, was Furcht, hungern oder frieren bedeutet – oder geliebte Menschen sterben zu sehen . . .“
Dank der Übersetzung durch Urenkelin Katharina erzählt Eugenia dann weiter: „Meine Kindheit und Jugend, die Zeit als Ehefrau und Mutter durchlebte ich in der Zeit des Ersten und des zweiten Weltkriegs. Wir waren neun Geschwister, meine Mutter starb neben mir liegend, als ich vier Jahre alt war. Ich glaube, sie starb an Typhus, und da es keine Medikamente gab, hat sie sehr gelitten, bis sie dann starb.“
Als Jugendliche schickte sie der Vater mit der jüngsten Schwester ins nächste Dorf, um Lebensmittel zu tauschen. Als die beiden wieder zurück kamen, fanden sie die ganze Familie ermordet vor. Der Bruder lebte noch kurz, die Schwestern wurden vergewaltigt und erschossen. Verantwortlich dafür waren marodierende ukrainische Banden.
Von da an begann der Überlebenskampf jeden Tag aufs Neue. „Wir hatten nichts außer uns, nicht mal Schuhe. Bei eisiger Kälte wärmten wir unsere Füße in Kuhfladen und waren glücklich, wenn wir etwas zum Essen gefunden zu haben“, berichtet Czarna. Als junge Frau lernte sie ihren Ehemann kennen, sie kehrten in ihr Elternhaus zurück und bauten es wieder auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlief das Leben der jetzt ukrainischen Familie, zunächst in ruhigeren Bahnen. Doch den nächsten Schicksalsschlag hat die damals 60-jährige Eugenia bis heute nicht verkraftet: Ihr Sohn kam bei einem Verkehrsunfall in Frankfurt ums Leben.
Über 40 Jahre kein Kontakt
Bedingt durch politische und sprachliche Barrieren konnte die Mutter in der Ukraine keinen Kontakt mit den hinterbliebenen Enkeln aufnehmen und hatte über 40 Jahre keinen Kontakt mehr zu ihnen.
Kurz nach der Jahrtausendwende siedelte Czarna nach Deutschland über, wo sie jetzt bei der Enkelin Wanda Michalcack in Stetten lebt. Zusammen mit Katharina machte sie sich auf die Spur der hessischen Verwandten, bis sie diese mithilfe des Internets endlich aufspüren konnte. Unbeschreiblich war dann die Freude, als sie vor zwei Jahren zum 102. Geburtstag Gregor wieder in die Arme nehmen konnte. Katharina erinnert sich an die Szene: „Sie konnten sich kaum verständigen, doch sie brauchten keine Worte in diesem sehr emotionalen Moment. Sie schauten einander an und weinten, Oma streichelte sein Gesicht. Das war wunderschön, wir weinten alle.“
Als zu ihrem 104. Geburtstag vor wenigen Tagen, an dem der Zweite Bürgermeister von Karlstadt, Theo Dittmaier, die Glückwünsche der Stadt, des Landkreises und des Freistaats überbrachte, waren auch die jüngsten Nachfahren mit dabei: die vierjährige Jana-Ina, fast genau ein Jahrhundert jünger als die Ur-Ur-Oma, und das vorläufig letzte Familienmitglied Milana das just zu der Zeit geboren wurde, als Eugenia Czarna ans Sterben dachte.
Ihr Vermächtnis endet mit den bewundernswerten Worten einer lebensklugen Greisin: „104 Jahre sind eine lange Zeit, aber es gab auch viele Momente, für die es sich lohnte zu leben. Es lohnt sich immer zu leben, weil wir alle irgendwann einmal gehen müssen. Und mitnehmen dürfen wir nur unsere Seele und vielleicht auch die Erinnerungen, die uns bleiben.“