zurück
GEMÜNDEN
Nach dem Krebs das Leben lernen
Wie in dieser Zeichnung versucht Joanna Dudeck aus Gemünden, die Tür ins Berufslebens für sich aufzustoßen.
Foto: Illustration: Romina Birzer | Wie in dieser Zeichnung versucht Joanna Dudeck aus Gemünden, die Tür ins Berufslebens für sich aufzustoßen.
Angelika Kleinhenz
 |  aktualisiert: 07.04.2020 11:54 Uhr

„Vor sieben Jahren begann ein Alptraum, aus dem ich scheinbar nicht mehr aufwachen kann“, schreibt die 20-jährige Joanna Dudeck in einer E-Mail an die Redaktion. Als sie 13 Jahre alt war, bekam sie die Diagnose Knochenkrebs. Das ist jetzt sieben Jahre her. Die junge Frau hat überlebt. Doch seither ist in ihrem Leben nichts mehr, wie es einmal war. Ein Kampf gegen Spätfolgen, Schmerzen, Vorurteile und Benachteiligung am Arbeitsmarkt beginnt.

20-Jährige bricht ihr Schweigen

„Ich habe lange geschwiegen und jetzt meinen ganzen Mut zusammen genommen, um Menschen, die von einem ähnlichen Schicksal betroffen sind, eine Stimme zu verleihen“, sagt Joanna Dudeck aus Gemünden (Lkr. Main-Spessart). „Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin sehr froh, dass ich noch beide Beine habe und es gibt sicherlich Menschen, die es um Einiges schlimmer getroffen hat als mich“, schiebt die selbstbewusste junge Frau hinterher. Aber ihr ist vor allem eines wichtig: „Jeden Tag, den ich neu beginne, fühle ich mich anders als andere in meinem Alter.“ Dabei sieht man ihr auf den ersten Blick ihre Leidensgeschichte nicht an: eine intelligente, dunkelhaarige, junge Frau.

Der zweite Blick der meisten Menschen fällt auf ihr rechtes Bein, das sie beim Gehen nachzieht. Im Gespräch wirken ihre Augen ungewöhnlich ernst für eine 20-Jährige – obwohl sie viel lacht. Joanna Dudek ist anders als die meisten ihrer Altersgenossen. „Ich habe nie eine richtige Kindheit und Jugend gehabt“, sagt sie nüchtern. Wie sollte sie auch? Ihr Alptraum begann, als sie 13 war.

„Danach wird alles wieder gut. Danach führst du ein ganz normales Leben.“ Joanna Dudeck weiß nicht, wie oft sie diese beiden Sätze gehört hat. Wie sehr sie dafür gekämpft hat, dass sie auch wahr werden. Wie oft sie sich ausgemalt hat, mit anderen Teenagern am Samstagabend in die Disco zu gehen. Oder in den Freizeitpark. Oder zum Sport. Wie es wohl wäre, eine Ausbildung zu beginnen. Als Erzieherin vielleicht. Mit fröhlichen und tobenden Kindern an der Hand. Wie oft sie sich gewünscht hat, nicht angestarrt zu werden, wenn sie mal eben auf einen Sprung in Gemünden einkaufen geht und dabei ihr rechtes Bein nachzieht. Doch Sport, Freizeitpark, Disco oder die Ausbildung zur Erzieherin, bei der sie auch mal zupacken und die Kinder herumheben müsste, lassen die Spätfolgen des überstandenen Krebses nicht zu.

Sie hat überlebt. Andere nicht.

Vor sieben Jahren fing alles an. Mit Schmerzen im rechten Bein. Eine Zyste wurde entfernt. Nach zwei Wochen kam der Anruf, dass sie noch mal in die Klinik kommen solle. Die Diagnose: Knochenkrebs. Sieben Blöcke Chemotherapie. Ein Dreivierteljahr lang. „Ich habe die komplette achte Klasse gefehlt.“ Mit Klinik- und Hausunterricht holte sie den Stoff nach. Sie schaffte den Sprung in die neunte Klasse. Die nächste Operation stand an. Der Tumor wuchs. Ein Teil des Knochens wurde entfernt. Eine 30 Zentimeter lange Narbe blieb. „Sie erinnert mich daran, dass ich es geschafft habe.“ Joanna Dudeck hat überlebt. Nicht alle auf der Station Regenbogen hatten so viel Glück. Die 20-Jährige blickt auf das einzige Foto in ihrer Küche. Ein zweijähriger Junge strahlt in die Krankenhauskamera. „Er kam jeden Morgen mit seinem Bobbycar in mein Zimmer gefahren und hat gerufen: 'Aufstehen!'.“ Sie schluckt. „Er starb während der Chemotherapie. Das war der schlimmste Moment in den letzten sieben Jahren.“

Joanna könne sich glücklich schätzen, sagt ihre Mutter, die von früh bis spät an ihrem Krankenbett saß. Sie solle froh sein, sagen die anderen. Der Krebs ist verschwunden. Joanna Dudeck schließt die Schule ab. Sie beginnt eine Ausbildung zur Bürokauffrau mit einer Förderung für Menschen mit Einschränkungen. Sie versucht, ein normales Leben zu führen. Sie scheitert. Der Druck ist zu groß. Der Schock, gerade noch einmal dem Tod entronnen zu sein, trifft sie zeitversetzt, aber mit voller Wucht. Ein Arzt diagnostiziert eine posttraumatische Belastungsstörung. Joanna Dudeck leidet unter Depressionen. Wieder beginnt ein Kampf. Wieder gewinnt sie. Dieses Mal muss sie es alleine schaffen, sagen die Ämter. Die Gemündenerin nimmt ihr Leben in die Hand. Sie findet einen Job. Eine eigene Wohnung. Einen festen Freund. Dann kommt der Schock: Die Schmerzen im rechten Bein kehren zurück.

Kampf gegen Spätfolgen und Vorurteile

„Wieder zerbrach mein Leben vor meinen Augen“, erzählt Joanna Dudeck. Nach Wochen voller Qualen und mehr als zehn Arztbesuchen stellt ein Arzt die Diagnose „chronischer Nervenschaden“. Es betrifft das Bein, das vor sieben Jahren vom Krebs befallen war. „Ich konnte nicht fassen, dass meine Vergangenheit mich wieder einholt.“

Mittlerweile kontrolliert die Tablette Lyrica ihr Leben. Sie macht die Schmerzen erträglich. Auf Gehhilfen humpelt die 20-Jährige alle vier Wochen zum Neurologen. Einmal in der Woche zur Psychotherapie. Trotzdem: Zwischen Schmerzen und Therapie will sie weiterleben, endlich ihre Ausbildung zur Bürokauffrau machen. Über 40 Bewerbungen hat sie bereits verschickt.

Bei Vorstellungsgesprächen ist sie ehrlich. Sie sagt: „Mit den Schmerzen komme ich selbst klar. Das beeinträchtigt die Firma nicht.“ Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind so gut wie lange nicht. Doch offenbar nicht für jeden. „Was ist mit unserer Gesellschaft passiert, dass Menschen, die nicht der Norm entsprechen, auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance bekommen?“, fragt die 20-Jährige und fügt hinzu: „Ich für meinen Teil werde nicht aufhören zu kämpfen.“

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Gemünden
Angelika Kleinhenz
Bürokaufmänner
Chemotherapie
Schmerzen und Schmerzmedizin
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top