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MARKTHEIDENFELD
Mit dem Bus zum Wunder von Bern
Das Wunder von Bern Vor 60 Jahren fuhr ein Bus von Marktheidenfeld in die Schweiz zur Fußball-Weltmeisterschaft. Zwei Teilnehmer erinnern sich an die Reise von 1954.
Gefreut wie die Weltmeister hat sich die Marktheidenfelder Gruppe, die 1954 mit dem Bus zur Fußball-WM in die Schweiz fahren durfte.
Foto: Archiv Otto Hruschka | Gefreut wie die Weltmeister hat sich die Marktheidenfelder Gruppe, die 1954 mit dem Bus zur Fußball-WM in die Schweiz fahren durfte.
Von unserem Redaktionsmitglied Andreas Brachs
 |  aktualisiert: 23.07.2014 09:40 Uhr

Es war das Erlebnis ihres jungen Lebens: Hildegard Reinhart (18 Jahre), und Otto Hruschka (19) fuhren 1954 zur Endrunde der Fußball-Weltmeisterschaft in die Schweiz, die mit dem „Wunder von Bern“ endete. Nachdem die deutsche Mannschaft vor kurzem in Brasilien ihren vierten WM-Titel geholt hat, erinnern sich die beiden an ihre abenteuerliche Fahrt vor 60 Jahren.

Für Hildegard Reinhart, die heute Koch heißt, ist es in mehrfacher Hinsicht ein Abenteuer: Sie ist nur eine von vier Frauen im Bus, noch nicht volljährig und fährt ohne Begleitung ihrer Eltern ins Ausland. Damals fast undenkbar. Vater und Mutter, eine Marktheidenfelder Schifferfamilie, sind zu dieser Zeit gerade auf dem Main unterwegs. „Meine Eltern hätten mich niemals mitfahren lassen, wenn sie das gewusst hätten“, blickt sie schmunzelnd zurück. „Aber ich war schon immer lustig und fidel“ und deswegen habe sie kurz entschlossen ihre Koffer gepackt.

Die Fußballabteilung des TV Marktheidenfeld hat schon ein Jahr zuvor mit der Planung der Fahrt begonnen, erzählt der ehemalige linke Außenläufer Otto Hruschka. Die Spieler sammeln ihre Spielprämien, so dass ein Grundstock von 34 D-Mark zusammenkommt. Abteilungsleiter Georg Rettner habe ein Dreiviertel Jahr vorher Karten für die Vorrunde bestellt; mehr als die Gruppenphase traut niemand der deutschen Mannschaft zu. „Die fliegen sowieso gleich raus“, lautet Hruschka zufolge die vorherrschende Meinung im Nachkriegsdeutschland.

Immerhin: Etwa 40 Marktheidenfelder bekommen Eintrittskarten für drei Vorrundenspiele und reisen nach Hruschkas Erinnerung als einzige Gruppe aus dem Bezirk zur WM. Vier Frauen fahren mit – als junges Mädel: Hildegard Reinhart. Sie arbeitet damals in der Spessarter Handschuhfabrik Hauck in der Petzoltstraße als Lehrling. Ihr Chef Manfred Henning hat einen Platz im Bus sicher, doch kurz vor der Abfahrt muss sein Blinddarm raus. Er macht seinen Platz für den Lehrling frei. Und Hildegard Reinhart hat Glück: Weil sie mit ihren Eltern auf dem Schiff immer wieder die Grenze überfahren muss, besitzt sie einen Reisepass, den sie jetzt für die Schweiz dringend braucht.

Weil in dem Alpenland auch die Preise hoch sind, hilft sich die Truppe selbst: Mitgebrachte Büchsenwurst dient zur Verpflegung, Bier spendet die Martinsbräu, der Kreisjugendring leiht den jungen Leuten ein großes Zelt. Die Deutschen übernachten „in freier Wildnis“ am Thuner See, unweit der Hauptstadt Bern. Weil es nachts schneit, „organisieren“ die Männer Stroh von einem Bauern als Unterlage. Zum Mittagessen leistet sich Hruschka Brot mit einer Tafel Schokolade als Belag für umgerechnet 30 Pfennig.

Als die Spiele beginnen, teilt sich die Gruppe. Die Frauen gehen in den Spielstädten Bern, Basel und Zürich bummeln, während die Männer in die Stadien gehen. Mehr als Stehplätze können sich die Kicker aus Marktheidenfeld nicht leisten. Nur wenige Jahre nach dem Krieg müssen die Deutschen Pfiffe ertragen, als ihre Mannschaftsaufstellung vorgetragen wird. Doch während der Spiele verhalten sich die Fans aus den Teilnehmerländern fair. Ressentiments erleben die Marktheidenfelder allerdings auf der Straße. Die Schweizer halten Abstand, als sie merken, woher die Gruppe kommt. Die Deutschen haben sich vorher eingeschärft, zurückhaltend und unauffällig zu sein. Keine Schlachtengesänge, keine deutschen Fahnen. „Die hätten uns sonst gesteinigt“, vermutet Hruschka. Begeistert von der Alpenregion und den Städten sind die Unterfranken dennoch. Sie genießen ihren sechstägigen Aufenthalt in der Schweiz. „Das Schönste waren die Berge“, sagen beide rückblickend.

Das „Wunder von Bern“ erlebt Hruschka später zu Hause am Radio zusammen mit seinen Fußballfreunden: Deutschland schlägt Ungarn im Endspiel 3:2 und wird erstmals Fußball-Weltmeister. Der Jubel kennt keine Grenzen und Hruschka erinnerst sich: „Plötzlich hatte Deutschland wieder Gewicht.“

Fußball-Weltmeisterschaft 1954

An der WM-Endrunde 1954 nahmen teil: Belgien, Brasilien, BR Deutschland, England, Frankreich, Italien, Jugoslawien, Mexiko, Schottland, Schweiz, Südkorea, Tschechoslowakei, Türkei, Ungarn, Uruguay, Österreich.

Der Weg der deutschen Nationalmannschaft ins Finale: 17. Juni in Bern, Türkei – BRD (1:4); 20. Juni in Basel, Ungarn – BRD (8:3); 23. Juni in Zürich, Türkei – BRD (2:7); 26. Juni in Genf, Jugoslawien – BRD (0:2); 30. Juni in Basel, Österreich – BRD (1:6); Finale am 4. Juli in Bern, Ungarn – BRD (2:3).

Die Marktheidenfelder fuhren vom 16. bis 21. Juni in die Schweiz und haben die folgenden Vorrundenspiele gesehen: Türkei – BRD, Uruguay – Schottland (7:0), BRD – Ungarn.

Deutschland war das erste Land, das Weltmeister wurde, obwohl es ein Spiel im Turnierverlauf verloren hatte. Außer Deutschland (1974 erneut) gelang dies nur noch Argentinien im Jahr 1978 und Spanien im Jahr 2010.

Sepp Herberger trainierte die Meistermannschaft von 1954. Text: jaf/Foto: Brachs

Modisch chic: Damenprogramm während der Spiele. In der Mitte Hildegard Koch, geborene Reinhart.
Foto: Archiv Hildegard Koch | Modisch chic: Damenprogramm während der Spiele. In der Mitte Hildegard Koch, geborene Reinhart.
Seit 1954 WM-Fans: Hildegard Koch und Otto Hruschka heute.
Foto: Brachs | Seit 1954 WM-Fans: Hildegard Koch und Otto Hruschka heute.
Marktheidenfelder im Stadion: Sitzen, wo andere stehen.
Foto: Archiv Hruschka | Marktheidenfelder im Stadion: Sitzen, wo andere stehen.
 
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