
Sie sind keine Hochstapler, aber sie sehen sich so: Menschen, die das Gefühl haben, ihren Erfolg nicht verdient zu haben. Deshalb heißt ihr Leiden Hochstapler-Phänomen oder auf englisch ausgedrückt Impostor-Syndrom. Die Ärztin Michaela Muthig aus Lohr hat ein Buch geschrieben, das Betroffenen helfen soll, sich realistisch einzuschätzen, anstatt sich als Blender und Betrüger zu fühlen.
Nach "Der kleine Saboteur in uns" ist "Und morgen fliege ich auf – vom Gefühl, den Erfolg nicht verdient zu haben" Michaela Muthigs zweites Buch. Wie die Autorin bestätigt, sind die beiden – der Hochstapler und der Saboteur – verwandt. Sie legen denjenigen, die davon befallen sind Steine in den Weg.
Die Angst, zu versagen
Die durch den Fachbegriff als Hochstapler Bezeichneten reden ihre Leistung, für die sie von anderen anerkannt werden, klein. Eigentlich sind sie Tiefstapler, weil sie auf ihre Leistung nichts geben. Nur sie selbst halten sich für Hochstapler, weil sie überzeugt sind, ihre Leistung sei durch Zufall oder glückliche Umstände zustande gekommen und nicht durch ihre Anstrengung und Arbeit.
Sie leiden folglich unter Versagensängsten oder Perfektionismus, der kaum noch Platz für anderes lässt, wie die Ärztin für Psychosomatik beschreibt. Sie lehnten manchmal sogar Beförderungen ab und ließen Karrierechancen verstreichen, weil sie sich nicht zutrauten, wofür Vorgesetzte sie für geeignet halten. Angst andere zu enttäuschen, gehöre ebenfalls zu den Mustern der vom Impostor-Syndrom Betroffenen. Auch der kleine Saboteur verbreitet Versagensangst, wie Michaela Muthig in ihrem ersten Buch beschreibt.
Vergleich mit Zerrspiegel
Um die Problematik den Lesern nahezubringen, steigt Muthig mit einem bildlichen Vergleich aus einem Märchen ein. Ein Zerrspiegel lässt jene, die hineinblicken, glauben, sie seien klein und hässlich. Ebenso verzerrt sei die Wahrnehmung der am Hochstapler-Syndrom Leidenden von sich selbst. Zu weiteren Veranschaulichung hat die Ärztin zwei Beispiel-Patienten geschaffen und schildert deren Erlebnisse.
Die Ursache für dieses Verhalten liegt laut der Fachärztin, wie beim kleinen Saboteur, meist in der Kindheit. Oft hätten die Eltern selbst Probleme gehabt und damit ihren Kinder unbewusst zu viel aufgebürdet. Oder sie hätten durch Lob hohe Erwartungen geweckt. Zu hohe Erwartungen führen jedoch zu Angst, sie nicht erfüllen zu können, und gleichzeitig zu Scham, wenn es wirklich einmal nicht klappt.
Die Autorin benutzt immer wieder den Vergleich mit dem Zerrspiegel, um die Fallen des Phänomens nachvollziehbar zu machen und um den Weg heraus zu weisen. Das Buch ist übersichtlich gegliedert, kapitel- und abschnittsweise mit Fragelisten zum Selbstcheck versehen. Eine Grafik veranschaulicht den Teufelskreis und Listen zum Ab- und Aufarbeiten sollen helfen, sich von alten, verzerrten Denkmustern zu befreien.
Den Zerrspiegel zerbrechen
Muthig verspricht keinen Ponyhof. Sie zeigt, welche Aussichten sich eröffnen, wenn Betroffene ihren Erfolg anerkennen können und den Zerrspiegel zerbrechen. Sie verschweigt nicht, dass der Weg dorthin auch schwierige Etappen haben kann. Und sie schlägt Skeptiker mit Humor: "Es können nicht alle Geisterfahrer sein", schreibt sie, um den Zweiflern am eigenen Erfolg den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wenn nur sie allein ihre Leistung abwerten, könnten sie davon ausgehen, dass die anderen mit ihrer Anerkennung und dem Lob recht hätten.
Ein weiteres Buch hat Michaela Muthig noch nicht geplant, schließt es aber auch nicht aus, erzählt sie im Telefongespräch. Syndrome, denen sie sich widmen könnte, gibt es noch einige. Da wären zum Beispiel die Menschen mit dem Dunning-Kruger-Effekt. Sie sind genau das Gegenteil derer, die am Hochstapler-Syndrom leiden: Sie überschätzen ihre Fähigkeiten.