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Marktheidenfeld
Marktheidenfeld: "Unerträgliche" Kampfabstimmung zu Stolpersteinen
Marktheidenfeld will sich seiner Nazi-Vergangenheit stellen. Aber wie? Auch mit Hitlers Lieblingsmaler und Ehrenbürger Hermann Gradl setzt sich der Stadtrat bald auseinander.
Hermann Gradl, am Beginn der Zwanziger Jahre.
Foto: Martin Harth | Hermann Gradl, am Beginn der Zwanziger Jahre.
Martin Hogger
Martin Hogger
 |  aktualisiert: 09.02.2024 01:26 Uhr

Mindestens 18 Marktheidenfelder Juden sind während des Dritten Reichs umgebracht worden, neun Juden wurden am 23. April 1942 deportiert. Diesen Menschen und allen weiteren Marktheidenfeldern, die wegen ihres Widerstandes, ihrer Hautfarbe, ihrer Behinderung oder ihrer sexuellen Orientierung von Nationalsozialisten aus oder in Marktheidenfeld umgebracht wurden, will der Stadtrat durch Stolpersteine in der Stadt ein Denkmal setzen. Der Antrag dafür kam von den Grünen. "Wir wollen einer Kultur des Vergessens entgegenwirken", sagte Dirk Hartwig. Dass es dafür jedoch eine Kampfabstimmung brauchte, beschrieb Helmut Adam (CSU) im Anschluss als "unerträglich". Im Herbst wird sich der Stadtrat zudem weiter mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen. 

Was war passiert? Die Grünen hatten einen Antrag gestellt, in enger Kooperation mit dem Historischen Verein eine Liste mit Mitbürgern zu erstellen, die im Nationalsozialismus in der Kernstadt und den Ortsteilen deportiert und getötet wurden. Um an diese zu erinnern, sollen bis Ende 2021 Stolpersteine des Künstlers Gunter Deming an geeigneten Stellen eingesetzt werden. Kosten pro Stein: etwa 120 Euro.

Nun war niemand der Räte dagegen, gestritten wurde jedoch darüber, wie man den Opfern am Besten gedenkt. Anlass war ein alternativer Antrag von Martin Harth (SPD), aus dem auch die in der Einleitung genannten Zahlen stammen. Dieses Thema bewege ihn seit Jahrzehnten. Der Antrag sei deshalb grundsätzlich zu begrüßen, sagte Harth, werde jedoch der besonderen Herausforderung einer Erinnerungskultur nicht gerecht. Todesopfer von Menschen aus dem Widerstand, weiterer Glaubensgemeinschaften, anderer Herkunft, Hautfarbe oder Sexualität aus der Stadt und den Stadtteilen seien bislang nicht bekannt. Auch das Kapitel der ermordeten Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen sei noch wenig erforscht. Dies müsse jedoch erst geschehen, weswegen er das Ultimatum bis 2021 nicht für sinnvoll hielt. Harth führte zudem an, dass das Symbol der Stolpersteine, obwohl verbreitet, nicht unumstritten sei. Ein Jude habe ihm Mal gesagt, er empfinde es als "ein Gedenken in der Gosse".

Harth schlug den Grünen vor, ihren Antrag zurückzuziehen und machte sich stattdessen für einen Initiativkreis aus der Bürgerschaft unter Führung des Historischen Vereins stark. Dieser Kreis soll geeignete und konkretere Vorschläge machen. Sollten diese dann tatsächlich Stolpersteine enthalten, erkläre sich der Stadtrat mit seinem Beschluss ebenfalls bereit, diese zuzulassen. Die Grünen zogen ihren Antrag nicht zurück. 

Gunter Demnig, Künstler und Initiator der Verlegung von Stolpersteinen zur Erinnerung an Opfer aus der Zeit des Nationalsozialismus, hält in Memmingen Stolpersteine für Benno und Martha Rosenbaum in den Händen. Auch für Marktheidenfeld soll er welche anfertigen. 
Foto: Stefan Puchner | Gunter Demnig, Künstler und Initiator der Verlegung von Stolpersteinen zur Erinnerung an Opfer aus der Zeit des Nationalsozialismus, hält in Memmingen Stolpersteine für Benno und Martha Rosenbaum in den Händen.

Hartwig: "Es ist verdammt noch mal Zeit." 

Holger Seidel (FW) sprach sich auch für einen Initiativkreis aus, bei dem dann auch Kinder und Jugendliche der Marktheidenfelder Schulen mitarbeiten und lernen könnten. Man sehe am Beispiel Martin Harths, dass ein Denkprozess über die richtige Aufarbeitung begonnen habe, sagte Ludwig Keller, proMAr und selbst Mitglied des Historischen Vereins. Auch er sei dafür, noch weiter zu forschen. Christian Menig (CSU) fand hingegen, dass es Marktheidenfeld gut zu Gesicht stünde, diese Gedenksteine zu legen. 

Dirk Hartwig ließ diese Diskussion offensichtlich fassungslos zurück: "Hier hieß es gerade, es müsse mehr geforscht werden. Der 2. Weltkrieg ist 75 Jahre her." Nach so einer langen Zeit wolle man das wieder verschieben? Auch der Vorsitzende des Historischen Vereins, Michael Deubert, würde bei dem Vorschlag der Grünen mitgehen. Hartwig: "Es ist verdammt nochmal Zeit, dass wir endlich was machen." 

Über diesen Kommentar ärgerte sich Heinz Richter (proMar): "Zu behaupten, dass sich darum nie gekümmert wurde, finde ich eine Frechheit." Er spielte damit auf das von Martin Harth genannte Mahnmal auf dem Mainberg und die Gedenktafeln am Friedhof an. Der Antrag von Harth sei außerdem juristisch sauberer. 

Dann kam es zur Abstimmung. Mit 12:13 Stimmen lehnte der Stadtrat den Antrag von Martin Harth ab. Mit 16:9 Stimmen nahmen die Räte den Antrag der Grünen an und Martin Harth kündigte an, seine Liste der Opfer und ihrer Straßen selbstverständlich weiterzugeben. Christian Menig hatte die Situation da schon auf den Punkt gebracht: "Wir wissen ja, was wir wollen. Wir können dem Kind nur keinen Namen geben."

Hitlers Lieblingsmaler: Nationalsozialismus wird Marktheidenfeld weiter beschäftigen

Während dieser zum Teil emotional geführten Diskussion wurde Hermann Gradl nicht erwähnt. Der Ehrenbürger der Stadt war einer von Adolf Hitlers Lieblingsmalern. Auf Nachfrage der Redaktion sagte der geschäftsleitende Beamte, Matthias Hanakam, am Freitag, dass sich der Stadtrat nach der Sommerpause mit Gradls Rolle in und für Marktheidenfeld auseinandersetzen werde.

 
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  • H. H.
    Wo ist das Problem?

    Man kann ja schon mal anfangen Stolpersteine zu verlegen für die Menschen, von denen man jetzt schon weiß, dass sie im Dritten Reich umgebracht wurden, und immer weitermachen, wenn man wieder jemanden herausgefunden hat, der/ die dasselbe Schicksal erleiden musste.

    Aber das Anfangen (auf den St. Nimmerleinstag) zu verschieben mit der Begründung, noch lange nicht alle Menschen zu kennen, denen das passiert ist und warum, hielte ich für ganz schön schräg.
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    Also gibt es bis Ende 2021 Stolpersteine?
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