
Der 18. Mai 2014 war ganz gewiss einer der Höhepunkte in der Geschichte der Retzbacher Wallfahrtskirche "Maria im Grünen Tal". Wo sonst meist wenige in eher beschaulicher Ruhe das weithin bekannte Gnadenbild besuchen, hatten sich im Rahmen des großen Wallfahrtstags "Patrona Bavariae" fast 6000 Gläubige aus ganz Bayern auf dem Platz vor der Kirche versammelt, um dort gemeinsam mit den 15 bayerischen Bischöfen einen Festgottesdienst zu feiern.
Doch so aufsehenerregend dieser Wallfahrtstag war, "Maria im Grünen Tal" ist mehr als ein Besuchermagnet. Es ist meist ein Ort der Stille, der Sammlung und der Begegnung mit sich selbst. Außerdem ist da natürlich die besondere Lage im wunderschönen Retztal, die Nähe zu den Verkehrsadern am Main und zu den guten Weinen vom Retzbacher Benediktusberg. Seit 1969 wurde die Stätte zum Wallfahrts- und Gebetsort für die Einheit der Christen erhoben.

Die Wallfahrt in Retzbach hat eine lange Tradition. Ihre eigentliche Entstehung liegt völlig im Dunkeln. Zwar gibt es die Geschichte von der Würzburger Ministerialenfamilie des Bodo von Rabensburg, die an der Ermordung des Fürstbischofs Konrad von Querfurt 1202 beteiligt gewesen sein soll. Dessen Ehefrau habe die Stätte als Sühne gestiftet, heißt es.
Eine andere Legende erzählt von den Hunden der Herren von Thüngen, die auf der Jagd einen waidwunden Hasen in einer Erdhöhle aufgestöbert und dabei die bekannte Marienstatue gefunden haben sollen. Infolgedessen sei auch die auffällige Schramme im Gesicht der Maria entstanden. Historisch belegt ist aber keine der beiden Darstellungen.
Zwar wurden die meisten Wallfahrten nach Retzbach im 19. Jahrhundert begründet, die Bad Orber Wallfahrt hat aber zum Beispiel ihre Wurzeln im Dreißigjährigen Krieg. Als dort 1635 durch die zahlreichen Schwedenüberfälle die Beulenpest eingeschleppt wurde, legten die verzweifelten Menschen das Gelübde ab, alljährlich eine Wallfahrt nach Dettelbach mit einer Tagesrast bei "Maria im Grünen Tal" zu machen. Das Gelübde sei nicht ein einziges Mal gebrochen worden, berichtet die Chronik des ehemaligen Retzbacher Pfarrers, Monsignore Gerold Postlers – auch 1945 nicht, als sich ein einziger Pilger auf den Weg machte. Noch früher, nämlich aus dem 14. Jahrhundert sind Pilger aus Duttenbrunn und Erlabrunn verbürgt.
Heutiges Aussehen aus dem Jahr 1968
Sicher ist, dass der heute noch erhaltene Ostchor der Kirche aus der Zeit vor 1336 stammt. Spätere An- und Umbauten verweisen auf die Zeit im 17. und im 18. Jahrhundert. Ihr heutiges Gepräge erhielt die Kirche beim Umbau 1968, als das schadhaft gewordene Langhaus im Lauf eines Unwetters einstürzte und durch den Neubau eines um das Doppelte vergrößerten Schiffs ersetzt wurde. Das Gnadenbild kam in eine fünf Meter hohe Bronzestele in das Schlussteil des Chors hinter dem Altar.

Ein Grund für den Zauber des Wallfahrtsortes ist gewiss dieses einfache, schlichte Gnadenbild: die lächelnde Madonna. Keine Pieta, keine streng oder entrückt dreinblickende Herrin – sie ist einfach die liebende, alles verstehende und alles verzeihende Mutter. Dieser Madonna trägt man gern und vertrauensvoll seine Ängste, Sorgen, Nöte oder auch seine geheimen Hoffnungen vor. Sogar ihr Kind auf dem Arm – mit der Weintraube in der Hand erinnert es an den Weinort Retzbach – vermittelt auf sympathische Weise etwas Pfiffiges, Modernes.
Knochensplitter aus dem Orient im Rücken der Statue
Die 1,39 Meter hohe Figur aus Buntsandstein entstammt der Frühgotik um 1300. Die Madonna gibt Historikern allerdings nicht nur äußerlich, sondern auch wegen ihres Inneren Rätsel auf. In einem kleinen Fach auf dem Rücken der Statue fanden sie in den 80er Jahren Knochensplitter, die in ein Tuch eingewickelt waren. Analysen zufolge stammen die menschlichen Überreste aus dem Orient. "Wahrscheinlich war das früher eine sogenannte Berührungsreliquie. Die Leute sollten etwas aus dem Heiligen Land anfassen können", vermutet Monsignore Postler. "Damals konnten sich eben nur die wenigsten Leute weite Reisen leisten."

Umgeben ist die Figur vom gotischen Chor, der nach dem Bau um 1360 zunächst die ganze Kirche darstellte. Hier sind teilweise noch alte Wandgemälde erhalten, die die Leidensgeschichte Jesu erzählen und einen großen Christophorus zeigen. Dieser wird häufig als Hüne mit Stab dargestellt, der das Jesuskind auf den Schultern über einen Fluss trägt. Die Wände werden von großen modernen Fenstern aus grauen Milchglasscherben durchbrochen.
Auch die Fenster in den Seitenwänden der Kirche bestehen aus den kleinen Glasscherben, sie sind allerdings mit dicken Glasbrocken, die wie Diamanten glitzern, durchsetzt. "Diese Fenster haben Wallfahrer gespendet. So haben auch sie einen Teil zur ungewöhnlichen Einrichtung der Kirche beigetragen", freut sich Gerold Postler. Insgesamt ist die Wallfahrtskirche eine geglückte Verbindung aus Tradition und modernem Baustil.

Viel kleiner, bescheidener und verborgen findet man an der Ostseite der Kirche noch eine Besonderheit: das "Marienbrünnle". Ein daumendicker Wasserstrahl kommt hier aus einer gemauerten Bruchsteinwand und fließt der Retz zu. Zeitgenossen schätzen den geringen Gehalt an Kalk für ihre Aquarien, viele aber sind fest davon überzeugt, dass das Wasser echte Heilkraft in sich birgt. Sie kommen des Öfteren, um hier ihre Kanister oder Kannen aufzufüllen.
Vorchristlicher Ort der Kraft
Vermutungen, dass es sich hier womöglich um einen der geheimnisvollen "Orte der Kraft" handelt, die noch aus der vorchristlichen Zeit stammen, sind wohl nicht ganz von der Hand zu weisen. Wer sich in einer stillen Minute ganz der traumhaften Verbindung zwischen Stein, Wasser und Natur einlässt, spürt vielleicht auch hier etwas von der göttlichen Kraft.
Pfarrer Postler spricht von fast 130 organisierten Wallfahrten, die vornehmlich in den Sommermonaten August und September "Maria im Grünen Tal" zum Ziel haben. Mit rund 1000 Pilgern ist dabei die aus Fulda die größte, die weiteste Anreise zu Fuß haben die Gläubigen aus Baunatal: für die 180 Kilometer lange Strecke sind sie drei volle Tage unterwegs. Trotz dieser Beliebtheit ist "Maria im Grünen Tal" ein angenehm stiller Wallfahrtsort geblieben, der zahllose Einzelpilger, Wanderer und "Stammpilger" anzieht.

Wechselhaft mit beschaulicher Ruhe und fröhlichem Treiben geht es im benachbarten Gesundheitsgarten zu. Dieser ist seit 2014 ein Ort, um die Seele baumeln zu lassen und neue Kräfte zu tanken. Direkt an der Wallfahrtskirche entstand ein 4000 Quadratmeter großes Areal, das für Bürger, Gäste und Wallfahrer gleichermaßen attraktiv ist. Austausch auf dem Mehrgenerationenplatz, Regeneration durch Kneipp-Becken, Entspannung auf dem Boccia-Platz und eine Naturheilkundeexkursion durch den Heilkräutergarten – all das ist hier möglich. Ein Laubengang mit Weinreben, der Meditationspavillon und ein Rasenlabyrinth runden das Angebot ab.
Die Kirche ist ab 8 Uhr bis zum Abend geöffnet. Außerdem beginnt an ihrem Standort der "Besinnungsweg Retztal". Auf dem 13 Kilometer langen Rundweg erwarten die Wanderer viele Stationen, die zum Beispiel die Flora und Fauna erklären.