Der neue Tag ist gerade ein paar Stunden alt. Die ersten Berufspendler sind schon unterwegs. Es regnet leicht, als unser Reisebus um 5.13 Uhr in Marktheidenfeld wenige Tage vor dem Lockdown zu einer "Fahrt ins Blaue" startet. Der Reise-Titel klingt vielversprechend. Aber geht das überhaupt, in den unseligen Corona-Zeiten eine Urlaubsreise mit dem Bus zu unternehmen – auch wenn sie nur drei Tage dauert?
Das Wetter scheint die Zweifel zu mehren. Der Himmel über dem östlichen Mainviereck ist erst mal grau statt blau. Doch die 26-köpfige Reisegruppe, im Bus nach Corona-Abstand weit verteilt, lässt sich die Laune nicht verderben. Alle sind guter Dinge und gespannt darauf, was kommen mag und vor allem, wohin die Reise gehen wird.
"Wir fahren zunächst einmal in Richtung Hammelburg", informiert Martina Greser, die Reiseleiterin und Chefin des Veranstalters. Einmal halte man noch, um unterwegs drei weitere Gäste an Bord zu nehmen, kündigt sie an. Eine Dreiviertel-Stunde später fährt der Bus in den zu dieser Uhrzeit noch etwas verschlafenen Gössenheimer Ortsteil Sachsenheim im Werntal. Hier steigen drei rüstige Seniorinnen ein und begrüßen die Anwesenden beim Einnehmen der Plätze mit einem freundlichen "Guten Morgen!".
Die Fahrt geht in Richtung Norden
Hinter Hammelburg geht es auf die Autobahn A 7 – wenig später vermuten einige Passagiere, dass es wahrscheinlich "nach Norden" gehen wird. An der Raststätte "Großenmoor" ist Frühstückspause mit belegten Brötchen, leckerem Streuselkuchen und duftendem Kaffee angesagt. Längst ist es taghell geworden, das Warten auf weitere Ziel-Infos beginnt. Wann wird die Reiseleiterin die Spannung lösen?
Der graue November-Himmel hat mittlerweile beschlossen, es mit der Tristesse gut sein zu lassen. Über dem Reisebus strahlt es inzwischen freundlich blau. Martina nennt den Namen eines Grafen Bernhard II., der im 12. Jahrhundert die zum Ziel erkorene Urlaubs-Stadt gegründet haben soll. Viel sagt den Fahrtteilnehmern dieser Bernhard nicht, aber einige Fahrtteilnehmer googeln auf dem Handy, was das Zeug hergibt. "Ich muss aufpassen, dass ich nicht zu viel verrate, sonst verbabbele ich mich gleich", kommentiert die Chefin ihre Beobachtungen.
Zwei der Handy-Aktivisten haben den Bernhard mittlerweile mit der Stadt Lippstadt in Verbindung gebracht und wollen wissen, ob sie richtig liegen. Als Martina Greser mitteilt, dass sich in der Mitte des Städtenamens zwei "PP" befinden, ist das Geheimnis gelüftet: Wir fahren nach Lippstadt, 33 000 Einwohner groß, auch "Venedig Westfalens" genannt– was schon mal nicht schlecht klingt. Das Rätsel ist also gelöst, auch wenn erst eine Stadtführung das Geschichtsbuch weiter öffnen wird und wir erfahren, dass ein bekannter deutscher Entertainer dem Flüsschen Lippe, das bei Wesel in den Rhein mündet, seinen Künstlernamen "entliehen" hat: Jürgen von der Lippe ("Guten Morgen liebe Sorgen"!)
Kompletter Luftaustausch häufiger als jede Minute
Unterdessen macht ist im Bus unter den Masken-Trägern und "Abstands-Touristen" das Thema Corona die Runde. "Corona" – ein Wort, das man vor einem Jahr noch nicht kannte und das jetzt zum gängigen Vokabular gehört. Gerne vernehmen die Busreisenden den Hinweis von Fahrer Sebastian: "Im Lüftungsbetrieb erfolgt im Bus ein kompletter Luftaustausch häufiger als jede Minute". Das klingt doch nicht schlecht und beruhigt.
Lippstadt mit seinen vielen Kanälen und die Kreisstadt Soest (die die Westfalen wie "Saust" aussprechen), beide Orte mit reicher Kirchenhistorie und schmucker Fachwerkkunst ausgestattet, wurden in den ersten beiden Reistagen ausführlich besichtigt. Ruhe und ein wenig Erholung bot auf der Rückfahrt das kleine Kurstädtchen Bad Sassendorf. Als Highlights wurden zwei weitere Ziele empfunden: der Möhnesee mit einer Schiffstour am Rande des Naturparks Arnsberger Wald und eine Brauerei im Städtchen Warstein, wo 7oo Menschen der westfälischen Braukunst frönen und Kunden in allen fünf Erdteilen für Absatz sorgen.
Alle Passanten tragen Masken, Hinweisschilder allerorten
Auf Schritt und Schritt und Tritt begegnen den Kurzurlaubern aus Main-Spessart Menschen mit Corona-Masken, wir sehen keine Lippstädter oder Soester, die "oben ohne" unterwegs sind. Optische Abstandshinweise findet man auf Kirchenbänken, auf dem Straßenpflaster, an Ladentüren, an Schaufenstern und an vielen weiteren Örtlichkeiten, wo man es nicht vermutet.
Natürlich gab es Beifall für Busfahrer Sebastian, ein humorvoller, gebürtiger Österreicher aus Ellmau im Kaisergebirge, der seinen Bus sicher und genau steuerte, und für Reiseleiterin Martina, die die Wünsche ihrer Gäste von den Lippen las und war immer, wenn notwendig, mit helfender Hand zur Stelle war. Auf der Heimfahrt meinte es das Wettergott noch einmal gut. Schirme mussten auch am letzten Tag nicht aufgespannt werden. Die Rhön-Wälder präsentierten sich in prächtigem Herbstgold.
Was nun für die Reisebranche und die Reisefreudigen kommen wird? Das vermag in diesen Corona-Tagen niemand so genau zu sagen. Die nächste "Fahrt ins Blaue" dürfte frühestens im nächsten Jahr wieder im Reisekatalog zu finden sein…