Der Zaun besteht aus Menschenknochen und aufgespießten Totenschädeln. Die Kinder halten den Atem an. "Igitt, ist ja eklig!", ruft ein Mädchen aus und verzieht das Gesicht. Zum Glück ist es nur ein Märchen, das Carola Graf und Aksana Brückner erzählen. Ein russisches Märchen mit dem Namen "Die schöne Wassilissa", erzählt auf Deutsch und Russisch. Die Kinder der Klasse 3a der Grundschule Karlstadt sitzen im Kreis, in der Mitte steht ein Szenario aus russischen Puppen. Eine Kerze brennt. Einmal im Monat werden sie nun zur Märchenstunde in der Grundschule zusammensitzen.
Carola Graf ist zertifizierte Erzählkünstlerin, Aksana Brückner Vertreterin des Integrationsbeirates Karlstadt. Das Projekt nennt sich "Erzählkunst macht Schule" und findet im vierten Jahr statt. Neu in diesem Jahr ist das zweisprachige Erzählen. Einmal im Monat kommt eine fremdsprachige Erzählerin in die Klasse und erzählt zusammen mit Graf ein Märchen aus der Heimat. Sprachförderung, Kultur und Integration in einem. Kinder lernen fremde Sprachen und Menschen anderer Herkunft wertzuschätzen. Das stärkt die Klassengemeinschaft, spannend ist es noch dazu.
Die fremde Sprache klingt spannend
Als das Märchen zu Ende ist, schließen die Kinder die Märchentüre symbolisch zu. "Krick, krack", rufen sie im Chor. Nun sprechen sie gemeinsam über das Gehörte. "Wie war es für Euch und was hat Euch denn besonders gut gefallen?", fragt Graf die Kinder. Viele Arme schnellen in die Höhe. "Wo die Mama dem Mädchen die Puppe geschenkt hat", "es war aber auch irgendwie gruselig", "ich fand die Hochzeit am Schluss schön".
Märchen symbolisieren Persönlichkeitsentwicklungen. Das Kleine, Dumme und Schwache meistert Hürden, um später als schöne Königstochter oder strahlender Held glücklich bis ans Ende aller Tage zu leben. Beim Hören und Erleben von Märchen werden soziale Kompetenzen und Sprache spielerisch erlernt. Durch das bilinguale Erzählen wird der Zugang zu anderen Kulturen einfacher.
Die Schüler und Schülerinnen der dritten Klassen an der Grundschule Karlstadt kommen aus Deutschland, Russland, Iran, Syrien, Türkei, Kolumbien und Polen. "Ich habe einiges verstanden", freut sich eine Schülerin mit polnischen Wurzeln. Die Kraft der russischen Sprache hat den Kindern sichtlich Spaß bereitet. "Ich fand es spannend, weil ich immer wusste, dass gleich wieder was auf Russisch kommt." Viele Köpfe nicken zustimmend.
Syrische Erzählerin wird noch gesucht
Die Erzählgruppe besteht aus Taylan Zorlu, Celia Juarez, Emma Lorenz, Emma M. Tribula und Aksana Brückner. Sie machen dieses Jahr den Auftakt als fremdsprachige Erzählerinnen und Erzähler. Einige ihrer Kinder gingen oder gehen hier zur Schule. Andere sind bei der Veranstaltung "Woche der Sprache" auf das Projekt aufmerksam geworden und wollten mitmachen.
40 Prozent der Kinder an der Grundschule Karlstadt haben einen Migrationshintergrund. Die meisten mit Wurzeln in der Türkei, Syrien und Afghanistan. "Wir haben derzeit noch keine Erzähler aus Syrien oder Afghanistan, freuen uns aber immer über Menschen, die bei uns mitmachen wollen", meint Aksana Brückner.