Mit einer völlig anachronistischen Veranstaltung mit den beiden vortrefflichen Schauspielern Ingo Klünder und Sylvia Oelwein überraschte Ingrid Sperber, die Vorsitzende des Kulturvereins Zellingen, ihre rund 50 Besucher im Dachgeschoss des altehrwürdigen Ture. In einer Zeit von SMS, E-Mail und WhatsApp ging es für eineinhalb Stunden um eine aussterbende Kulturtechnik: Briefe schreiben. Als Schauspiel mit Lesung präsentierten die beiden "Love-Letters" nach dem amerikanischen Dramatiker Albert Ramsdell Gurney.
50 Jahre lang schreiben sich Andrew und Melissa Briefe, in denen sie sich gegenseitig von ihrem Leben und ihrer Gedankenwelt berichten. Dabei werden sie einander so vertraut und kommen sich so nahe, dass es eigentlich in einem gemeinsamen Leben enden müsste. Es entwickelt sich eine tiefe Liebe, die aber unerfüllt bleibt und immer nur auf dem Papier, eben im "Love-Letter", an Leben gewinnt.
Zu verschieden sind die zwei. Eine reiche Sozialwaise - der Vater ist weg, die Mutter trinkt - schwankt zwischen Depressionen und Versuchen der Selbstverwirklichung. Sie ist hochemotional, exzessiv und möchte eigentlich ein Freigeist sein. Andi ist sachlich, kontrolliert, strebsam und steigt im Laufe der Jahrzehnte bis zum Senator auf. Nur in seinen Briefen an Melissa kann er seinen Gefühlen Ausdruck verleihen. "Ich schenke mich dir aus der Ferne", schreibt er einmal. Wenn sie sich doch gelegentlich treffen, muss das Mädchen feststellen: "Du bist anders, wenn wir uns sehen. Wir sind zwei Menschen, die wir eigentlich nicht sind."
Und doch kommen sie nicht von einander los. Nach 40 Jahren treffen sie sich und erleben mehrere erfüllte Nächte - ein Happy-End scheint möglich. Aber trotz verzweifelter Versuche, den Gefühlsfaden zu entrollen, entscheidet sich Andrew für seine Familie und die Karriere. Erst nach Melissas Tod gelingt es ihm in der Erinnerung, zu seiner Liebe zu stehen. Selbstverständlich in einem Brief an die Verstorbene. Es bleibt bei "Love-Letters".
Der amerikanische Dramatiker Gurney erzählt seine Geschichte in Briefform. Zwar muss sich der Leser oder der Zuhörer erst in diese ungewöhnliche Erzählform hineinfinden, doch dann fesselt der Autor mit einer Fülle von tiefen Gedanken und ausdrucksstarken sprachlichen Bildern: "Ich muss meine Gefühle wiederfinden. Man kann nicht wieder nachhause zurück. Du warst das Herzstück meines Lebens."
Diese bemerkenswerte Geschichte wurde im Zellinger Ture allerdings von den beiden Vortragenden Ingo Klünder und Oelwein in unvergleichlicher Weise interpretiert. Unaufgeregt, sachlich und perfekt pointiert las Klünder aus Andis Briefen, während seine Partnerin die wechselvolle, mal schwärmerische und dann wieder verzweifelte Melissa in einer Weise verkörperte, dass man ihr jedes Wort glauben konnte.
Im Vorfeld und im Anschluss hatten die Besucher Gelegenheit, die Gemäldeausstellung der Karlstadter Malerin Romi Friedel zu besichtigen.