Seit rund 50 Jahren steht das Haus in ihrem Wohnort leer und verfällt. Die meisten Gambacher beachten es gar nicht mehr. Aber auf Evelyn Fenn übt es eine Anziehungskraft aus. "Schon sehr lange möchte ich da mal rein." Seit gut vier Jahren besucht die 42-Jährige "Lost Places", kennt sich in Unterfranken und Thüringen schon ganz gut aus und schmiedet Pläne für Auslandsreisen. Dabei hat sie schon viel Unerwartetes entdeckt und gute wie böse Überraschungen erlebt.
"Ich habe online Bilder und Berichte von Leuten gesehen, die Lost Places besuchen. Das wollte ich auch mal machen", erzählt Evelyn Fenn. Die Krankenschwester in einer Würzburger Klinik sprach darüber mit ihrer Freundin Maren – "und sie war auch interessiert". Also begaben sich die beiden Frauen nach Thüringen, in Marens Heimat. In Eisenach besuchten sie das seit den 90er Jahren leerstehende, ehemalige Hotel Fürstenhof.
Nicht jeder Besuch ist legal
Das frühere Hotel der SED-Bosse verfällt, sein Abriss ist beschlossene Sache. Aber noch immer ist das weitläufige Gebäude imposant dank seines Festsaals mit mächtigen Kronleuchtern, seiner prächtigen Foyers, luxuriöser Suiten mit Blick auf die Wartburg und großer Treppenaufgänge mit filigran verzierten Geländern. "Wir haben dort eine Führung mitgemacht und fotografiert", erzählt Fenn.
Beim Besuch von Lost Places ist die rechtliche Lage nicht immer so eindeutig wie bei der offiziellen Führung in Eisenach. Streng genommen handelt es sich beim unerlaubten Eindringen in ein fremdes Gebäude um Hausfriedensbruch. "Aber oft juckt's auch keinen", sagt Evelyn Fenn. Da ist zum Beispiel die ehemalige Villa eines Urologen in einem hessischen Kurort. "Die steht mitten im Ort, wird aber regelmäßig von Mitgliedern der Lost-Places-Gemeinschaft besucht." Nachbarn oder die Polizei unternehmen anscheinend nichts gegen diese Besuche.
"Ein bisschen Nervenkitzel gehört dazu", sagt Evelyn Fenn. Es könne auch mal unheimlich werden, wenn in einem solchen Gebäude Bademäntel und andere Kleidung vorzufinden seien, als könnten die Eigentümer jeden Moment wiederkommen. "Im Praxis-Bereich der Urologen-Villa gibt's auch Patientenakten und Röntgenbilder", so Fenn. Dass das niemanden kümmert, wundert sie. Zum Kodex der Lost-Places-Fans gehöre es aber "nichts mitzunehmen, nichts kaputt zu machen", erklärt die Gambacherin. "Man sollte nur ansehen, nichts verändern."
Sie hält sich an den Kodex der Community
Fenn hält sich an diese ungeschriebenen Regeln, sie dringt auch nicht mit Gewalt in ein Gebäude ein. "Deswegen bin ich ein kleines Licht in der Lost-Places-Community." Aber das macht ihr nichts aus. Auf der Webseite "Go2Know" findet sie Hinweise auf interessante Orte, die einen Besuch wert sind. "Zwei-, dreimal im Jahr" macht sie dann einen Wochenendausflug mit ihrer Freundin zu vergessenen Orten. Bisher waren die beiden überwiegend in Franken, Hessen und Thüringen unterwegs, aber Evelyn Fenn sagt: "Ich würde gern mal nach Belgien, in die Niederlande oder nach Dänemark."
Aber mit Vorsicht: "Ich würde nie nachts irgendwo reingehen. Wir sind zwei Frauen." Trotzdem kommt es zuweilen zu unerwarteten Begegnungen. "Wir waren in einem Haus, das wir für leer hielten, und auf einmal stand da jemand anders vor uns." Evelyn Fenn lacht. "Klar, wir hatten Schiss. Aber die haben sich genauso erschrocken wie wir." Es seien nur zwei junge Frauen gewesen, die sich dort gegenseitig in Kostümen fotografierten.
Eindringen in eine vergangene Welt
Das eigentlich Faszinierende an ihrem Hobby ist für Evelyn Fenn das Eindringen in eine andere, vergangene Welt. "Man findet manchmal absolut irres Zeug – Sterbeurkunden, Eisenbahnkarten von 1920, ein Militärpass aus den 1930ern", erzählt sie. "Und wie das alles einfach Stehen- und Liegengelassen wurde, Kleidung an der Garderobe, Geschirr auf dem Küchentisch. Das schafft eine besondere Atmosphäre." Fenn sagt: "Ich versuche mir immer vorzustellen, wie es früher war. Wer dort gelebt hat und wie – das interessiert und fasziniert mich."
Sie hat deshalb auch nichts dagegen, für Führungen durch verlassene Gebäude zu zahlen. "Dabei erfährt man oft mehr über die frühere Nutzung", sagt die Gambacherin. Bei manchen Hardcore-Fans von Lost Places seien Führungen verpönt. Das ficht Fenn nicht an.
In Gambach hat sie kürzlich ihren Mut zusammengenommen und die Eigentümerin des seit mehreren Jahrzehnten leerstehenden Hauses gefragt, ob sie denn dort mal rein dürfte. Und die sagte zu. "Es war unglaublich. Die Küchenschürzen hingen noch so da, dass man gleich reinschlüpfen könnte. Mir fiel ein Spielkarten-Quartett in die Hände mit dem Titel Deutsche Städte, das noch Danzig und Breslau enthielt", erzählt sie. Eine Main-Post-Ausgabe von 1970 weist wohl darauf hin, wann das Gebäude zuletzt bewohnt war.
Das Traumziel in der Ferne
Diesen Lost Place in ihrem Heimatort zu begehen, war für Evelyn Fenn "besonders cool", weil sie überall regionale Bezüge erkannte "und weil das noch komplett unberührt ist". Ein vergessener Ort, den sie als Erste "erforscht hat". Ihr Traumziel aber ist etwas bekannter als das Haus in Karlstadt-Gambach – und weiter weg. "Ich hoffe, das klingt nicht respektlos gegenüber den Menschen in der Ukraine in ihrer derzeitigen Situation. Aber wenn es irgendwann wieder möglich sein sollte, würde ich wahnsinnig gern mal das ehemalige Kernkraftwerk in Tschernobyl durchstreifen."
Aber sie weiß nun: Auch in der Nähe, im von Lost-Place-Enthusiasten bisher wenig besuchten Landkreis Main-Spessart, gibt es Interessantes zu entdecken.