Ins Haus von Michael Fey in Lohr fällt nur wenig Licht. Das liegt an den Bäumen, die das Haus umstehen; auch an den Fensterscheiben, die klein, alt und staubig sind. Die spärlichen Strahlen fallen auf Wände, von denen großflächig Putz blättert. Sie fallen auf nackten Holzboden. Auf eine vergilbte Couch und eine Marienstatue; Letztere stammt von der blinden Tante, die in dem Haus lebte und von Fey jahrelang gepflegt wurde. Schon die Tante hat das alte Haus nicht renovieren können. Und der Mann, der jetzt hier lebt, schafft das auch nicht. Michael Fey wird bald 70 Jahre alt und ist ein armer Mann: Seine Altersrente beträgt 89 Euro – im Monat. Damit gehört Fey zu den rund 120 000 Menschen in Bayern, die im Alter Hilfe vom Sozialstaat brauchen.
Fey hat das Wirtschaftswunder nicht erlebt
Die Armut an sich sieht Fey nicht als Problem an. Aufgewachsen in einer „armen und genügsamen Künstlerfamilie“ – sein Großvater war der Heimatdichter Nikolaus Fey – hat er Wohlstand nie gekannt. „Das Wirtschaftswunder fand in meinem Haus nicht statt, es gab weder Kühlschrank noch Waschmaschine noch Fernseher noch Auto noch Urlaubsreisen“.
Also sei er „anspruchslos“ aufgewachsen und habe „anspruchslos“ gelebt, berichtet Fey. Erst mit der Mutter, dann mit der Tante im alten Haus. Seit deren Tod lebt er allein.
Ein Nebenjob, damit er dem Staat nicht zu sehr auf der Tasche liegt
Aber auch wer „anspruchslos“ leben kann, kommt mit 89 Euro im Monat nicht über die Runden. Der Lohrer nimmt deshalb Grundsicherung im Alter in Anspruch. Derzeit bekommt er nach eigenen Angaben 183 Euro im Monat ausbezahlt; auch übernimmt das Amt seine nicht kündbare, private Krankenversicherung. Damit er dem Staat nicht „allzu sehr auf der Tasche liegt“, trägt der alte Mann außerdem Anzeigenblätter aus.
„Das geht gar nicht so schnell wie man denkt“, sagt Fey. Ist das Wetter gut und das Anzeigenblatt dünn, braucht er für den Job sieben bis acht Stunden pro Woche. Sind die Anzeigenblätter aber besonders dick, kann Fey nicht so viele Exemplare gleichzeitig in sein Rollwägelchen packen und muss Sondertouren machen, ist bis zu zwölf Stunden in der Woche unterwegs: „Von hier aus in westliche Richtung, eineinhalb Kilometer den Berg hinaus, bis der Wald anfängt; alles in allem drei Kilometer pro Tour. Dann zurück. Sortieren. Und wieder los.“
Fürs Austragen bekommt Fey 240 Euro im Monat. Er sei, sagt Fey, „an den Telefonbüchern dran“. Vielleicht dürfe er die auch noch austragen. Das würde ihm helfen, dann könnte er sich ein wenig mehr leisten. Vielleicht sogar jeden Tag ein richtiges Mittagessen.
Derzeit gibt es das nicht. Zwar frühstücke er jeden Tag ordentlich, Brötchen, Marmelade, Ei, erzählt Fey, aber Mittagessen genehmige er sich nur jeden zweiten Tag. „Ich mache das so: Ich bestelle mir sieben „Essen auf Rädern“ für vierzehn Tage“. Das reiche ihm; an den anderen Tagen esse er halt eine Suppe.
Kleidung ist für ihn auch manchmal ein Problem. „Ich pflege viele Wochen im selben Aufzug herumzulaufen, weil ich kaum Auswahl habe“, teilt er mit. Schuhe hingegen bekommt er. Weil er sie fürs Zeitungsaustragen als „Arbeitsmittel“ braucht, habe ihm das Sozialamt in Lohr zwei Paar genehmigt und bezahlt, berichtet Fey. Auch wenn ihn die Armut selbst nicht stört – dass er angewiesen ist auf Anträge und auf Amt, das ist ihm unangenehm.
Wer trägt die Schuld an Feys Armut?
Wer die Schuld trägt an seiner Armut? „Tja“, sagt Fey. Er hantiert mit seiner alten Brille, nimmt sie von der Nase und setzt sie wieder auf. Die Brille taugt einfach nicht mehr bei Augen, die schlecht geworden sind durch grauen Star und durch Diabetes. Fey muss jetzt nach der Leselupe suchen, wenn er Kleingedrucktes entziffern muss – amtliche Anschreiben zum Beispiel, aus denen hervorgeht, wie wenige Euros ihm zum Leben bleiben.
Fey gehört nicht zu denen, die für eigene Probleme grundsätzlich „den Staat“ oder die „Gesellschaft“ verantwortlich machen. Dafür denkt er zu differenziert; schließlich hat er Politik und Geschichte und Soziologie studiert, wenngleich ohne Abschluss. „Für die Armut verantwortlich“, sagt er, „ist dann vermutlich doch mein Lebensentwurf“.
Sein Leben war Lernen; das Lernen hat ihn immer begeistert, beschäftigt, getröstet. Rund fünfzehn Sprachen hat der Lohrer in seinem Leben gelernt; sich im Selbststudium beigebracht, hat jede freie Minute in deutsch-türkischen, deutsch-polnischen, deutsch-serbokroatischen Wörterbüchern neue Ausdrücke aufgesogen. Nach dem, was Fey erzählt, hat er sich schon als junger Mann so sehr ins Sprachenlernen vertieft, dass er die Anforderungen des Alltags manchmal übersah. „Lebenstauglichkeit und Lebensklugheit besaß ich eher weniger“, sagt Fey denn auch rückblickend. Es kam jedenfalls so, dass Fey erst nach acht Jahren Studium merkte, dass er in den Fächern, die er studiert hatte, an seiner Uni gar keinen Abschluss machen konnte.
Fortan sah sich der Geisteswissenschaftler ohne Abschluss „als Dolmetscher und Helfer für Migranten“. Türkisch hatte er sich in einem Jahr beigebracht und konnte es schließlich sehr gut, was damals in den Siebzigern für einen Deutschen sehr ungewöhnlich war. Lebhaft erzählt Fey von vielen türkischen Bekannten, für die er „als kleiner Freiberufler“ übersetzt hat, sehr gefragt sei er damals gewesen.
Viel gearbeitet für wenig Geld
Aber wenn man ihm heute gegenübersitzt, wo es um sein Geld im Alter geht, und sagt: „Fürs Übersetzen werden Sie doch wohl Honorare gekriegt haben, Herr Fey“, dann zuckt der grauhaarige Mann mit den Achseln und erwidert: „Na ja, die hatten doch auch nicht viel, die Türken.“
Außerdem habe er ja auch Hemmungen gehabt, von den Türken, von denen etliche zu Freunden wurden, Geld zu nehmen. Auch die Kurse in der Volkshochschule, die er gab, brachten nicht viel ein. Mehrfach begann Fey auch zu schreiben; seine Memoiren zum Beispiel. Die Lebenserinnerungen landeten aber nicht beim Verlag, sondern „in der Schublade“. Und als er einmal ein halbes Jahr lang damit verbracht habe, ein Buch aus dem Polnischen ins Deutsche zu übersetzen, da sei ihm der Auftraggeber das Honorar schuldig geblieben. „Der war mittlerweile ein Sozialfall, und einen Sozialfall wollte ich nicht mit Forderungen plagen“, merkt Fey an.
Wer als Selbstständiger lebt, muss selbst für die Rente vorsorgen. Das hat Fey versäumt und trägt insofern natürlich die Verantwortung für die Ebbe auf dem Konto. Spricht man ihn darauf an, sagt er: „Fürs Vorsorgen hatte ich doch kein Geld.“
Aber das Leben hat ihm natürlich auch den ein oder anderen bösen Streich gespielt – die Sache mit der privaten Krankenversicherung zum Beispiel. Seine Mutter habe sie für ihn abgeschlossen, als er noch Student war. Später habe er wegen der „viel zu hohen Beiträge“ austreten wollen, berichtet Fey, aber die Versicherung habe ihn nicht austreten lassen. Seinen Schilderungen zufolge beträgt sein privater Krankenkassenbeitrag derzeit immer noch über 700 Euro; anteilig zahlten dafür derzeit sowohl das Lohrer Sozialamt wie auch er selbst, weshalb er weniger Grundsicherung ausgezahlt bekomme. Fey: „Der Zwang, trotz beschränkter Mittel privat versichert zu bleiben, der hat mich erst richtig arm gemacht.
“ Wo er kann, macht Fey deswegen gerne Politiker „auf das Unding aufmerksam, dass selbst geringste Geringverdiener privat versichert bleiben und Tribute zahlen müssen, bis sie ein Sozialfall sind.“
Armut im Alter in Bayern
Immer mehr Menschen in Bayern sind im Alter arm. Laut dem Statistischen Landesamt ist die Zahl der Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in den letzten Jahren gestiegen. Im Jahr 2014 waren in Bayern mehr als als 117 000 Menschen auf diese Hilfe angewiesen. Jüngere Zahlen gibt es nicht; derzeit bearbeitet das Landesamt die neuen Zahlen aus dem Jahr 2015. „Der Trend ist aber klar“, heißt es aus dem Amt, „die Zahlen gehen weiter nach oben“.
Aus den bereits vorliegenden Zahlen geht hervor, dass mehr Frauen als Männer auf diese Sozialleistung angewiesen waren. 2014 betrug ihr Anteil 53 Prozent.
Fünf Personengruppen, die besonders von Altersarmut bedroht sind, führt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung auf. Neben den „ehemaligen Selbstständigen“, die nicht vorgesorgt haben, sind „familienorientierte Frauen“ gefährdet, die finanziell vom Ehemann abhängig waren und nicht ausreichend in die Rente eingezahlt haben. Außerdem gefährdet sind „zugewanderte Personen“ mit einer schwachen Stellung auf dem Arbeitsmarkt, „umbruchsgeprägte Ostdeutsche“, die zur Zeit der Wiedervereinigung ihren Job verloren und die „Gruppe der komplex Diskontinuierlichen“, deren Leben von Schicksalschlägen, Brüchen, Krankheiten oder Süchten geprägt war. GRR