Wolfgang Vorwerk ist bei seiner Suche nach Nachkommen Lohrer Juden fündig geworden. Der Vorsitzende des Geschichts- und Museumsvereins hat bei einer Gemeinschaftsveranstaltung mit der Volkshochschule (Vhs) in der Alten Turnhalle Ellen Isaak porträtiert. Ihr Großonkel war der Lohrer Ehrenbürger Joseph Schloßmann.
Vor fast 50 Besuchern, der aktuell zulässigen maximalen Besucherzahl, verwies Vhs-Leiterin Susanne Duckstein darauf, dass Vorwerks Vortrag "Wir sind Juden aus Lohr" ein Beitrag der beiden Kooperationspartner zum Jubiläumsjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" ist. Neben dem Vortrag Vorwerks wurden Teile eines Interviews gezeigt, das der aus Lohr stammende und in San Francisco lebende Regisseur Christoph Steger im Juni 2019 mit Ellen Isaak geführt hat.
Diese lebt ebenfalls in der kalifornischen Metropole und wird im Oktober 98 Jahre alt. Erst am Montag hat Vorwerk mit ihr telefoniert. Den Kontakt verdankt der Vorsitzende des Geschichts- und Museumsvereins Maude Schloßmann, der Urenkelin von Joseph Schloßmann, die heute in Schweden lebt.
Noch Deutschkenntnisse
Sie suchte mithilfe von DNA-Analysen nach ihrer weltweit verstreuten Verwandtschaft und stieß so auf Ellen Isaak. Seitdem habe er Kontakt mit Ellen Isaak, berichtete Vorwerk: "Sie spricht immer noch sehr gut Deutsch." In Ellen Isaak verbinden sich laut Vorwerk zwei Familien aus der kurzen Geschichte der israelitischen Kultusgemeinde in Lohr, die nur von 1864 bis 1939 dauerte: der Schloßmanns und der Rothschilds.
1864 kam Isaak Schloßmann aus Wiesenfeld nach Lohr und gründete Am Oberen Marktplatz 175 (das Haus wurde für den Sparkassenbau abgerissen) ein Lederwarengeschäft. Seine Tochter Fanny heiratete 1884 Emanuel Rothschild, der das Geschäft seines Schwiegervaters übernahm und zum Bekleidungsgeschäft erweiterte. Sie waren die Großeltern von Ellen Isaak.
Das Geschäft lief gut, Rothschild war ein angesehenes Mitglied der Lohrer Gesellschaft und gehörte diversen Vereinen an. 1887 wurde sein Sohn Ludwig Rothschild, Ellen Isaaks Vater, im Haus am oberen Marktplatz geboren. Er besuchte die Lohrer Lateinschule. Zwei weitere Kinder folgten.
1907 zog die Familie mit den Kindern nach Berlin um, der Grund dafür ist unbekannt. Das Lohrer Geschäft übernahm Hermann Rothschild, der Bruder von Emanuel Rothschild. Hermanns Sohn Bruno erlangte Bekanntheit, weil er zum katholischen Glauben konvertierte und Priester wurde.
In der Hauptstadt kam Ellen Isaak 1923 zur Welt. Ihr Vater Ludwig hatte im Jahr zuvor die aus Pommern stammende und 15 Jahre jüngere Wally Lewy geheiratet. Ellen Isaak blieb ihr einziges Kind. Durch Christoph Stegers Interview habe man einiges über ihren Vater Ludwig erfahren, "von dem wir bis dahin nichts wussten", berichtete Vorwerk.
Orden gelten nichts mehr
So habe er als deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg gekämpft und sei auch ausgezeichnet worden. Als aber die Nationalsozialisten an die Macht gekommen seien, "hat das alles nichts mehr gezählt". Bis dahin habe die Familie ein sorgenfreies Leben in Berlin geführt.
Ellen sei als Einzelkind von allen verwöhnt worden, vor allem von ihrer Oma Fanny, die nach dem Tod ihres Mannes zu ihrem Sohn gezogen war. Nachdem jüdische Kinder die öffentlichen Schulen nicht mehr besuchen durften, wurde sie an einer jüdischen Privatschule unterrichtet, bis diese geschlossen wurde.
Weil sie nicht mehr zur Schule ging, sollte Ellen Isaak nach dem Willen einer Berliner Dienststelle putzen gehen. Ludwig Rothschild reichte es. Nach der Schilderung von Ellen Isaak habe er erklärt, "so geht es nicht mehr weiter", und Kontakt zu seinem Onkel Max Rothschild aufgenommen, der in Chicago einen kleinen Schlachthof betrieb.
Mit seiner Hilfe wanderte die Familie 1938 in die USA aus. Doch ihr Vater sei mit der neuen Situation nie zurechtgekommen, erzählte Ellen Isaak, während sie selbst und ihre Mutter sich arrangiert hätten. Ellen arbeitete als Kindermädchen, ihre Mutter als Näherin. Ihr Vater sei wegen des sozialen und beruflichen Abstiegs verbittert, "er starb mit gebrochenem Herzen".
Anderer Auswanderungsgrund
1946 heiratete Ellen Isaak den aus Aschaffenburg stammenden Norbert Isaak, der in der US-Armee gedient und an der Landung in der Normandie teilgenommen hatte. Die beiden zogen nach San Francisco und bekamen Tochter Peggy und Sohn Jerry.
Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert sei in den 1930er Jahren niemand aus Deutschland in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die USA ausgewandert, sondern wegen der Verfolgungen, zog Wolfgang Vorwerk als Resümee. Am Beispiel Lohrer Juden sehe man, "wie sich aus einem normalen Leben die Hölle entwickelt hat".