
Am Ostabhang des Spessarts, dort wo das Flüsschen Lohr und der Rechtenbach in den Main münden, befindet sich die Stadt Lohr. Mit etwas mehr als 15 000 Einwohnern und rund 13 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist sie heute ein bedeutender Wirtschaftsstandort im Landkreis Main-Spessart.
Doch werfen wir einen Blick in die Vergangenheit. Experten gehen davon aus, dass der Ort, aus dem später die Stadt Lohr erwuchs, spätestens im 8. Jahrhundert besiedelt war. Die erste bekannte Erwähnung Lohrs – als "Lare" – befindet sich auf einer Urkunde, die aus dem Jahr 1295 stammt. Damals war Lohr ein Kernort der Grafschaft Rieneck und dürfte um die 1500 Einwohner gehabt haben. 38 Jahre später, 1333, verlieh Kaiser Ludwig der Bayer Lohr die Stadtrechte. In dieser Zeit entstand eine Stadtbefestigung, die mehrere Jahrhunderte das Stadtbild prägte. Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts fiel sie jedoch – zumindest größtenteils – den Erfordernissen einer neuen Zeit zum Opfer.
Mächtiger Mauerring mit Stadttoren
Die im 13. und 14. Jahrhundert errichtete Befestigung bestand aus einem massiven doppelten Mauerring, der die Stadt umgab. Der Abstand zwischen den beiden Mauern betrug rund vier Meter. Die innere Mauer war mehr als zwei Meter dick und vermutlich fünf bis sechs Meter hoch. Wer damals in die Stadt hinein oder aus ihr heraus wollte, musste eines der drei Stadttore benutzen.

Das obere Tor befand sich ungefähr in Höhe der heutigen Blumenhalle Hutzel an der Hauptstraße, das Lohrtor oder Latt-Tor war am unteren Eingang der heutigen Lohrtorstraße etwa in Höhe des Bettenhauses zu finden und das Niedertor, das auch Schmitten- oder Wachtmeistertor genannt wurde, am Fuße des Bayersturms (ein Stadtturm, der nach der Türmerfamilie Bayer benannt ist).
Ebenfalls durch mehrere Tore gesichert war die Vorstadt. Zum Main hin gab es das Fischertor, im Bereich der heutigen Kaplan-Höfling-Straße das Hirtentor und im Süden der Vorstadt das Kaibachstor. Manche Quellen berichten noch von zwei weiteren Toren, je einem in der Muschelgasse und der Grabengasse.
Tore wurden zum Verkehrshindernis
Durch die Erfindung immer schlagkräftigerer Waffen verlor die Lohrer Stadtbefestigung mit ihren Mauern, Türmen und Toren im Lauf der Zeit an Bedeutung. Im 19. Jahrhundert kam zu dieser Bedeutungslosigkeit aus funktionaler Sicht hinzu, dass die Torgebäude mit ihren engen Durchlässen immer mehr zum Verkehrshindernis wurden. Damit war ihr Ende absehbar.
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Als erstes Stadttor wurde im Jahr 1819 das etwa 3,30 Meter breite Niedertor am Bayersturm abgerissen, durch das "kaum ein beladener Heuwagen durchfahren konnte", wie aus Akten aus dieser Zeit hervorgeht. Um 1844 folgte der Abriss des oberen Tores. Es bestand aus einem 29 Meter hohen Turm, einem vorgelagerten Tor und einem dazwischenliegenden Wachtmeisterhaus. Sowohl das Niedertor als auch das obere Tor sollten ursprünglich durch neue Tore ersetzt werden, doch dazu kam es nie.
Das Lohrtor bestand vermutlich aus zwei Torhäuschen links und rechts der Straße; das westliche dürfte zwischen 1833 und 1844 abgerissen worden sein, bei dem östlichen handelt es sich wahrscheinlich um das Gebäude, in dem sich heute ein Asia-Imbiss befindet. Im Jahr 1912 verschwand schließlich auch das Hirtentor aus dem Stadtbild. Das einzige Tor, das auch heute noch existiert, ist das Fischertor am Ostende der Fischergasse. Allerdings handelt es sich nicht mehr um das historische Torgebäude, sondern um einen in den 1960er Jahren erstellten Neubau.

Nur Reste der Stadtmauer übriggeblieben
Übrig geblieben von der einstigen Stadtbefestigung sind lediglich Reste der Stadtmauer und der Bayersturm, der seit rund 650 Jahren trutzig an seinem Platz steht. Der letzte erhaltene Turm der einstigen Stadtbefestigung ist 39 Meter hoch. Wer die 147 Stufen zur ehemaligen Türmerwohnung unter der Schieferhaube hinaufsteigt, wird mit einem wundervollen Blick über die Dächer der Altstadt belohnt.
Dass der Bayersturm überlebte, liegt daran, dass er kein Torturm war, sondern neben dem Niedertor stand. Als dieses vor rund 200 Jahren abgerissen wurde, bekam der Bayersturm einen ebenerdigen Eingang; der frühere befand sich in rund vier Metern Höhe und war nur über einen Wehrgang zu erreichen.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde der Bayersturm mehrfach umgebaut. Ein Bild aus dem Jahr 1550 zeigt ihn mit spitzem Dach und Umlauf. Heute hat er eine abgerundete, sogenannte welsche Haube und ist außerdem um ein bis zwei Stockwerke höher. Insgesamt sechs Etagen hat der Turm, in dessen oberster sich die Türmerwohnung befand. Die darunterliegende fünfte diente der Türmerfamilie – heute kaum noch vorstellbar – zeitweise als Ziegenstall.
Die wichtigste Aufgabe des Türmers war es, darauf zu achten, ob irgendwo Feuer ausgebrochen war. War dies der Fall, so musste er die Turmglocke läuten und eine Fahne aus dem Fenster hängen: eine rote bei Feuer in der Stadt, eine schwarze bei Feuer im Umland. Den genauen Brandort teilte er mit Hilfe eines rund zwei Meter langen Sprachrohres mit. Nachts wurden die Fahnen durch Laternen ersetzt: zwei Lichter kündeten von Feuer in der Stadt, eine Fackel bedeutete, es brennt im Umland.
Eine weitere Aufgabe des Türmers war es, tagtäglich zur Mittagszeit einen Choral zu blasen. Außerdem war es sein Privileg, auf Hochzeiten die Musik zu machen sowie Musikanten auszubilden. Dass die Wächter in luftiger Höhe nicht nur musikalisch begabt waren, sondern zuweilen auch kabarettistische Qualitäten vorzuweisen hatten, zeigt folgender überlieferter Türmerspruch, die Fenster der Wohnung im sechsten Stock betreffend: "Etz kumme Vürheng dro - ich håb des Reigeglotz von de Leut satt" (Jetzt kommen Vorhänge dran – ich habe es satt, dass die Leute reinschauen).

Dass der Bayersturm mit seiner vollständig erhaltenen ehemaligen Türmerwohnung heute überhaupt zugänglich ist, ist dem Bayersturmverein zu verdanken. Dieser wurde 1975 mit dem Ziel gegründet, Geld für die Innenrenovierung des Turms aufzutreiben. Zu diesem Zweck veranstalteten die Meeviertel-Bewohner zwischen 1975 und 1989 immer im September "Bayersturmfeste". Bald war das Geld für eine neue Treppe zusammen, umgerechnet 64 000 Euro kostete sie. Nach deren Einbau im Jahr 1979 war das Lohrer Wahrzeichen – wie geplant – für die Öffentlichkeit endlich wieder zugänglich. Weitere 23 000 Euro steckte der Verein, der im Jahr 2018 aufgelöst wurde, in die Innenausstattung des Turms.
Heiraten im Bayersturm
Seit Mitte 2005 hat der Bayersturm noch eine ganz besondere Funktion: er dient als Trauzimmer, sodass Brautpaare dort standesamtlich heiraten können. Die Nachfrage ist allerdings nicht übermäßig groß, was am Aufstieg über teilweise sehr enge Treppen liegen dürfte, der im Brautkleid durchaus abenteuerlich werden kann. Sein heutiges Aussehen hat der Bayersturm seit 50 Jahren. Bevor er 1970 verputzt wurde und einen ockerfarbenen Anstrich erhielt, war das nackte Mauerwerk aus Buntsandstein sichtbar.
In normalen Zeiten ist der Bayersturm von Ende März bis Ende Oktober vormittags an Samstagen, Sonn- und Feiertagen geöffnet. Aktuell jedoch ist er aufgrund der Coronavirus-Pandemie für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Große Bedeutung für Lohr hatten vom 12. bis 14. Jahrhundert die Grafen von Rieneck, die seit Mitte des 13. Jahrhunderts ihren Sitz im Lohrer Schloss hatten. 1366 wurde die gesamte Grafschaft Rieneck Mainzer Lehen. Mit dem Tod des letzten Rienecker Grafen (Philip III) im Jahr 1559 kam Lohr als heimgefallenes Lehen an das Erzstift Mainz und erlebte eine neue Blütezeit.

Mit dem Ende des Kurmainzer Staates kam Lohr im Jahr 1803 zum Dalberg'schen Fürstentum Aschaffenburg, 1810 zum Großherzogtum Frankfurt und 1814 schließlich zum Königreich Bayern. 1854 erfolgte mit der Eröffnung der Strecke Aschaffenburg – Würzburg der Anschluss Lohrs ans Eisenbahnnetz. Ihre erste (alte) Mainbrücke bekam die Stadt Lohr im Jahr 1875, die zweite (neue) 1975.
Literatur: Als Quelle für Teile dieses Textes diente die Abhandlung "Im 19. Jahrhundert fielen die Lohrer Stadttore dem Verkehr zum Opfer" von Josef Harth, erschienen in dem Buch "Beiträge zur Geschichte der Stadt und des Raumes Lohr, Ausgabe 2012".
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter www.mainpost.de/geschichte_mspL.