
Auch wenn das literarische Werk des in Obersinn geborenen Schriftstellers, Volkserziehers, Pädagogen und Kulturpolitikers Prof. Dr. Dr. h.c. Leo Weismantel kaum noch bekannt ist, so profitieren heute noch Schulen und bildende Einrichtungen von den Impulsen seiner reformpädagogischer Bewegung der 1920er Jahre. In der Weimarer Republik war er ein bekannter deutscher Autor, zählte zu den führenden Geistesschaffenden seines Landes. Weismantel, zeitlebens Pazifist, war ein unbequemer Denker.
Dennoch - oder deswegen? - scheinen er und seine Werke heute aus dem öffentlichen Bewusstsein herausgefallen zu sein. Schon in Zeiten des kalten Krieges propagierte der Obersinner Ehrenbürger die Annäherung zur DDR und zur damaligen UdSSR, stellte sich trotz Anfeindungen der Vision einer Perestroika und war Vorreiter der Friedensinitiative der 1990er Jahre.
Erst Ende der 1980er Jahre söhnte sich sein Geburtsort mit ihm aus. „Es täte unserer Gesellschaft gut, wenn wir mehr von diesen Querköpfen hätten“, sagte der Festredner zum 100. Geburtstag im Jahr 1988. „Der weit seiner Zeit vorausdenkende Weismantel geriet aufgrund seiner inneren Diskrepanz zwischen die politischen und religiösen Fronten“, urteilte der damalige Bürgermeister Ludwig Zeller.

„Wir stehen als Dichter in der Zeit, nicht nur um Literatur zu erzeugen, sondern um diese Welt zu bessern und zu ändern.“ Diese Worte Leo Weismantels kennzeichneten sein Wesen. Am Obersinner Hartberg steht ein Kreuz aus heimischem Buntsandstein, das Weismantels Eltern 1887 als Gelübde um ein siebtes Kind errichten lassen - vier vorher geborene Kinder waren bereits im Säuglingsalter gestorben.

Geboren wurde der Sohn am 10. Juni 1888. Die Eltern gaben ihm den Namen Leo nach Papst Leo XIII. und bestimmten ihn für den Priesterberuf. Seine Kindheit verbrachte Leo in Obersinn. Eine in der Familie lebende Tante erzählte ihm alte Sagen und viel Geheimnisvolles aus der Vergangenheit. Ab 1895 ging Leo in Obersinn zur Volksschule und Ortspfarrer Hess unterrichtete ihn in Latein. Bereits als 12-Jähriger wechselte er auf das Humanistische Gymnasium Münnerstadt, an dem auch Augustinerpatres unterrichteten. 1901 verstarb seine Schwester Marie mit nur 18 Jahren, sodass der Familie mit Leo und dem 15 Jahre älteren Karl Mathäus nur noch zwei Söhne blieben. Letzterer übernahm das väterliche Erbe eines Landprodukte-Großhandels mit Spedition.
Leo missfiel der sture Schulbetrieb, er kämpfte mit gesundheitlichen Problemen und in seinem Inneren auch mit der Bestimmung zum Priesterberuf. In seiner Gymnasialzeit verfasste er bereits Gedichte und Erzählungen in jugendlicher Fantasie. Sein Lungenleiden zwang ihn, das Gymnasium bereits nach der 7. Klasse zu verlassen. 2008 wechselte er an die Universität Würzburg, konnte dort aber mangels Abitur nur das Fach Zahnmedizin belegen.

Doch Leo Weismantel besuchte verstärkt die Vorlesungen der philosophischen Fakultät. Er interessierte sich weiter für die Fachbereiche Geographie, Geologie, Mineralogie und Geschichte, wandte sich der Geologie zu und schrieb in knapp zwölf Monaten die geographische Preisaufgabe der Uni und promovierte mit „summa cum laude“ zum Dr. phil.. 1915 heiratete er seine Mitstudentin Luise Wetzell, die ihm Tochter Gertrud und Sohn Werner schenkte.
1917 erschien sein erster Roman
1917 erschien sein erster Roman aus der Rhön, „Mari Madlen“, den er zeilenweise in Unterrichtspausen der Handelsrealschule in Würzburg geschrieben hatte, wo er sich als Lehrer verdingte. Dieser weltweit aufgelegte Roman verhalf Weismantel zu Wohlstand. An der Schule lehnte er sich erstmals -erfolglos - gegen den sturen Paukbetrieb auf. Der tief religiöse Pädagoge war vom Reformeifer besessen und vertraute seiner Ideologie „Kinder sollten nicht nach dem Lehrplan, sondern nach ihrem Können unterrichtet werden“.
Er kehrte dem Schuldienst den Rücken und zog 1920 nach Marktbreit, wo er ein Haus erwarb und fand seine Erfüllung als freischaffender Schriftsteller auf dem Gebiet der Dichtung, Erziehung und Kulturpolitik. Bereits 1921 verfasste er das Bühnenspiel „Der Totentanz“, das parallel in Nürnberg und Bonn und später in Tokio aufgeführt wurde. 1924 bis 1928 vertrat Weismantel als Abgeordneter die Christlich-Soziale Partei im Landtag mit dem besonderen Engagement in Bildungspolitik und setzte 1926 eine Schulreform durch.
Theaterstücke und pädagogische Schriften
Nebenher veröffentlichte er Romane, Theaterstücke und pädagogische Schriften. 1928 zog es ihn erneut nach Marktbreit, wo er die „Schule der Volkschaft“, ein privates pädagogisches Forschungsinstitut, mit Aufträgen des Reichsinnenministeriums gründete und Tausende von Lehrern schulte. Sein Ziel galt der Stärkung der Volksschulen, einer neuen Kunsterziehung und Brauchtum. Seine Rhöndichtungen, besonders die Triologie „Das alte Dorf / Das Sterben in den Gassen / Die Geschichte des Hauses Herkommer“ (1928-1931), in welchem er seinen Heimatort „Dorf Sparbrot“ nannte, zeigen einen Autor, der die Rhön und den dortigen Menschenschlag liebte.
Die Gemeinde Oberammergau beauftragte Weismantel 1932 eine Neufassung der Passion, ein „Gelübde-Spiel“ zu schreiben -1933 verhinderte ein Einspruch der NS-Größen die Änderung der Spiele. Geblieben ist das Stück „Die Pestnot Anno 1633“, das bis heute jeweils zu Beginn der Passionsspiele aufgeführt wird.
Das Wirken Weismantels begann sich ab 1933 mit politischen Verfemungen und Einschränkungen der Nationalsozialisten radikal zu verändern. Es nutzte auch nichts, dass er im Oktober 1933 mit den drei Rienecker Schriftstellern Gebrüder Schnack und Walter Bloem einer der 88 Schriftsteller war, die das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft zu Adolf Hitler“ unterschrieben. Es ging ihm unter den Nazis alles andere als gut: 1936 schlossen sie seine Forschungsanstalt, in der NS-Presse wurde er als „Jude“ und „Systemblüte“ bezeichnet und Weismantel zog nach Würzburg um.
Doch die Nazis hatten ihn durch die Gestapo weiterhin unter Beobachtung und stampften seine Legendensammlung ein. Sein Roman „Gericht über Veit Stoß“ könnte ein Grund gewesen sein, dass man den Dichter im Dezember 1939 im Münchener Bürgerbräukeller verhaftete, um ihn als Geisel zu erschießen. Doch Hitler hielt diese Hinrichtung für nicht ratsam und Weismantel kam auf freien Fuß. Während der Schriftsteller ab 1943 weiter Künstlerromane wie „Dill Riemenschneider“ schrieb, wurde über ihn ein Schreibverbot verhängt und geriet 1944 in die zweite Inhaftierung. Durch einen glücklichen Zufall - der Lagerarzt erkannte den kranken Autor - kam er frei und kehrte 1944 in seinen Heimatort Obersinn zurück.

Hier erfuhr er von der Bombardierung Würzburgs am 16. März 1945, bei der seine Wohnung zerstört wurde. Weismantel schreibt seine ergreifende „Totenklage über eine Stadt“. Bereits 1944 führte die amerikanische Siegermacht eine „weiße Liste“ mit unbelasteten Persönlichkeiten für eine demokratische Nachkriegszeit, in welcher Weismantel als möglicher bayerischer Kultusminister gehandelt wurde. Doch er lehnte - wohl aus gesundheitlichen Gründen - nach dem Krieg ab und ging stattdessen als Schulrat nach Gemünden, wo er aber mit seinen Reformvisionen aneckte und die Militärregierung ihn nach nur einem Jahr wieder entließ. 1948 ernannte ihn seine Heimatgemeinde Obersinn zum Ehrenbürger.
Bis 1951 war er Leiter des pädagogischen Instituts in Fulda und habilitierte 1946 zum Professor für Kunstgeschichte und Deutsch. Er war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Mitinitiator des Wartburgkreises christlicher Schriftsteller, politisch engagiert in der Gegnerschaft zur Wiederaufrüstung zur atomaren Bewaffnung und der Veränderungsbereitschaft gegenüber dem Osten. Doch Weismantels reformpädagogische Themen sowie Abwendung von jeglicher Machtpolitik waren im Nachkriegsdeutschland nicht gefragt. Er mahnte zur Verständigung und Aussöhnung mit der damaligen DDR und UdSSR. Das letzte Lebensjahrzehnt stand unter dem Zeichen zunehmender Isolierung und Diffamierung.
Weismantel zunehmend in der Isolation
Zur 150-Jahr-Feier des Stadttheaters Würzburg 1954 sollte Weismantel die Festrede halten. Der Pazifist wurde ausgeladen, da er an einem von der evangelischen Kirche in der DDR initiierten gesamtdeutschen Dichtertreffen auf der Wartburg in Eisenach teilgenommen hatte. Er wurde daraufhin von katholischen Zeitungen wie auch dem Fränkischen Volksblatt als „kommunistenhörig“ diffamiert und katholische Verlage legten seine Titel nicht mehr auf. Als er 1957 mit seinem Verleger zu den Weltfestspielen der Jugend nach Moskau reiste, sperrte man ihm gar sein Konto. Um seinen wirtschaftlichen Ruin abzumildern, übertrug Weismantel die Verlagsrechte an seinen Romanen dem Ost-Berliner Union-Verlag und vermachte seinen literarischen Nachlass der Akademie der Künste in Berlin.
Weismantel kämpfte unbeirrt, ohne Ansehen der Ideologie, um Frieden und Menschlichkeit. Zutiefst religiös, geriet er sogar in Konflikt mit der Amtskirche. In den 1930er Jahren hing sogar ein Pamphlet, gegen den Schriftsteller an der Obersinner Kirchentüre. Der Ortspfarrer lehnte auch eine Glockenspende von ihm, „dem roten Dichter“, ab. 1956 siedelte Leo Weismantel nach Jugenheim über, um nahe bei seiner Tochter Gertrud zu sein. Dort veröffentlichte er politische Schriften zur Tagespolitik. Am 30. August 1964 besuchte er zum letzten Mal Obersinn: Zur Einweihung des Denkmals der drei hartherzigen Jungfrauen an der Reithbrücke erzählte er zum letzten Mal die Sage vom „Schloss in der Sünfte“. Nur 17 Tage später verstarb er in Rodalben/Pfalz und wurde in Jugenheim beigesetzt.

18 Jahre nach seinem Tod gründete sich die Leo-Weismantel-Gesellschaft, die sich der Pflege des Lebenswerkes des Schriftstellers auf die Agenda schrieb. Leider löste sich die Gesellschaft nach nur elf Jahren nach dem plötzlichen Tod der Initiatorin Prof. Dr. Gertrud Weismantel auf. Der Markt Obersinn übernahm 2013 den persönlichen Nachlass des Dichters, der heute im 2019 eröffneten und sehenswerten „Leo-Weismantel-Museum“ ausgestellt ist. Zum 100. Geburtstag 1988 läutete sein Heimatort die endgültige Versöhnung mit seinem größten Sohn ein: An der Volksschule errichtete man eine Gedenkstele, die eine Bronzeplatte mit Bild des Dichters ziert. Heute steht die Skulptur vor dem Museum.

2003 brachten die Festspiele in Bad Orb Weismantels Meisternovelle „Der Richter von Orb“ auf die Open-Air-Bühne. Schulen und Straßen in Gemünden, Marktbreit oder Würzburg tragen noch heute seinen Namen. Die Auszeichnungen, die Weismantel zuteil wurden, sprechen eine eigene Sprache: Er erhielt die Ehrung der Kleist-Preis-Stiftung und die Stadt Köln verlieh ihm den Fastenrath-Preis. 1958 Verleihung der Willi Pirckheimer Medaille, 1963 Carl-von-Ossietzky-Medaille und Max Dauthenday Plakette. Zum 75. Geburtstag verlieh ihm die Berliner Humboldt-Universität die Ehrendoktorwürde. Das Werk Leo Weismantels umfasst 284 Publikationen: Rhönromane und -dichtungen, religiöse Schriften, Künstlerbiografien, Bühnendichtungen, pädagogische und bildungspolitische Schriften.
Literatur: Weismantel-Archiv Alfred Andres und Leo-Weismantel-Museum Obersinn; Humboldt Universität Berlin: Leo Weismantels Leben und Werk; Ein Buch des Dankes zum 60. Geburtstag. Literatur Portal Bayern; Verfasser Dr. Leonhard Schäfer.
Zum Autor: Jürgen Gabel arbeitete mehr als vier Jahrzehnte bei der Sparkasse in Gemünden. Er schreibt seit 52 Jahren für die Main-Post als Lokalberichterstatter im oberen Sinngrund und interessiert sich für die Heimatgeschichte der Region.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter https://www.mainpost.de/dossier/geschichte-der-region-main-spessart