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Marktheidenfeld
Leiharbeit am Beispiel Marktheidenfeld: Segen oder Fluch?
Kurz vor Weihnachten hat Procter & Gamble in Marktheidenfeld (Lkr. Main-Spessart) überraschend viele Verträge von Leiharbeitern aufgelöst. Da stellt sich die Frage: Was steckt dahinter?
Nebeneinander - und doch getrennt? Zeit- oder Leiharbeiter arbeiten oft genau wie ihre angestammten Kollegen, verdienen aber meist deutlich weniger.
Foto: Jörg Sarbach, dpa | Nebeneinander - und doch getrennt? Zeit- oder Leiharbeiter arbeiten oft genau wie ihre angestammten Kollegen, verdienen aber meist deutlich weniger.
Martin Hogger
Martin Hogger
 |  aktualisiert: 27.04.2023 09:17 Uhr

Etwa eine Million Leiharbeiter gibt es aktuell in Deutschland. Seit Anfang Dezember gehört Johann Burgstaller (*) nicht mehr dazu. Über ein halbes Jahrzehnt war er beim Marktheidenfelder Zeitarbeitsvermittler Franz & Wach beschäftigt, die gesamte Zeit über habe er bei Procter & Gamble gearbeitet, erzählt er.

Gemeinsam mit etwa 40 weiteren Leiharbeitern habe er dann die Nachricht bekommen, dass sein Vertrag aufgelöst werde. "Manche bei Procter & Gamble waren zum Teil seit zehn Jahren in der Leiharbeit", schreibt er der Redaktion. Er sei ähnlich lange da gewesen. Wie lange genau, das sagt er nicht - es würde seine Identität verraten.

Was Leiharbeit ausmacht

Leiharbeiter: Das sind Menschen, die bei einem Vermittler wie Franz & Wach angestellt sind und für kurze Zeit an Firmen verliehen werden. Dass Leiharbeiter entlassen werden – und dazu noch so viele –, ist nichts Besonderes, es liegt in der Natur von Leiharbeit.

Leiharbeiter verdienen deshalb im Schnitt weniger, können sich weniger weiterbilden und steigen beruflich seltener auf als herkömmliche Arbeitnehmer. Weil Leiharbeit oft missbraucht wurde, wurden die Gesetze zum April 2017 verschärft. Seitdem liegt die Höchstdauer, die ein Leiharbeiter in einem Unternehmen bleiben kann, bei anderthalb Jahren. Wie können manche jedoch doppelt bis fünf Mal so lange bei dem selben Unternehmen arbeiten?

Warum Unternehmen Leiharbeiter brauchen

Etwa 1500 Menschen arbeiten aktuell bei Procter & Gamble in Marktheidenfeld. Das sagt Gabriele Hässig, die Pressesprecherin des US-Konsumgüterkonzerns. Wie viele Leiharbeitsverträge aufgelöst und wie viele Leiharbeiter noch in Marktheidenfeld arbeiten, will sie nicht sagen, da die Zahl immer schwanke.

Einzig die Franz & Wach-Website gibt etwas Orientierung. Dort steht, man stelle in Marktheidenfeld mehrere Hundert Mitarbeiter für einen "Global Player". Für das verarbeitende Gewerbe wären solche Zahlen zwar hoch, jedoch nichts Besonderes. Mit etwa 4,3 Prozent der Beschäftigten stellen Leiharbeiter den höchsten Anteil unter allen Branchen in Deutschland. Das ergab der "Gute Arbeit Index" des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). 

Warum brauchen Unternehmen wie Procter & Gamble überhaupt Leiharbeiter und warum so viele? Hässig sagt: "Wir nutzen die Möglichkeiten der Leiharbeit, um flexibel für unsere Kunden zu sein und saisonale Spitzen in der Produktion und aktuelle Projekte in bestimmten Bereichen personell abzudecken."

Leiharbeit am Beispiel Marktheidenfeld: Segen oder Fluch?

Im aktuellen Fall habe man für den hohen kurzfristigen Produktionsbedarf im Vorfeld des Weihnachtsgeschäfts Leiharbeitskräfte eingesetzt. Die entsprechenden Vereinbarungen mit den Leiharbeitskräften würden nun zu einem Teil enden. Dass darunter auch Leiharbeiter seien, die teilweise seit zehn Jahren dort arbeiten, hält sie für nicht wahrscheinlich, das sei nicht erlaubt. 

Was bedeutet Leiharbeit für die Menschen? 

Nur: Es ist erlaubt. Erst seit April 2017 gilt die Höchstdauer von anderthalb Jahren, dann muss der Leiharbeiter übernommen oder der Einsatz beendet sein. Davor gab es 13 Jahre lang gar keine Höchstdauer. Rechnet man die zehn Jahre Leiharbeiterschaft bei Procter & Gamble zurück, müssen die betroffenen Beschäftigten 2010 begonnen haben. Dann haben sie sieben Jahre gearbeitet, bevor sie Mitte April 2017 nur noch bis Oktober 2018 arbeiten hätte dürfen.

Dass für die Kollegen und Johann Burgstaller (*) dann nicht Schluss war, liegt daran, dass Leiharbeiter mit Verleiher und Unternehmen Vereinbarungen treffen können, um weiter beschäftigt zu bleiben. So sei das auch bei ihm und Procter & Gamble gewesen, erzählt Burgstaller. Er habe zugestimmt, über das Geld könne man nicht meckern. Besser als nichts sei es gewesen. Hätte ihn Procter & Gamble nicht auch eingestellt? "Da ich keine gelernte Ausbildung habe, natürlich nicht."

Zeitarbeit: Die Vor- und Nachteile für Arbeitnehmer
Leiharbeiter sind nicht direkt beim Unternehmen angestellt, in dem sie arbeiten, sondern bei einem Personaldienstleister oder "Verleiher". Das Unternehmen bezahlt dem Verleiher dann eine Gebühr, um den Arbeiter auszuleihen. Nachdem ein Einsatz endet, bleibt der Leiharbeiter beim Verleiher angestellt. Sollte dieser jedoch keinen weiteren Einsatz finden, kann dies ein Kündigungsgrund sein.
Im Vergleich zu Festangestellten sind Leiharbeiter benachteiligt, wie der "Gute Arbeit Index" des DGB und viele weitere Studien zeigen. Leiharbeiter haben weniger Einfluss auf die Arbeitsgestaltung, haben ungünstigere Arbeitszeiten, können sich weitaus seltener beruflich weiterbilden und verdienen für die gleiche Arbeit erst nach neun Monaten das gleiche Geld – wobei fast 84 Prozent der Leiharbeiter nicht länger als sechs Monate im Betrieb bleiben. Das führt dazu, dass vor allem vorher Arbeitslose oft in Leiharbeitsstrukturen hängen bleiben, wie eine Studie der Universität Hamburg zeigt.
Aber für die Leiharbeiter kann Leiharbeit auch Vorteile haben. Es kann einen ersten Einstieg in eine Branche bieten, Erfahrungen schaffen. Aus diesem Grund vermittelt auch die Agentur für Arbeit einen großen Teil der Menschen an Zeitarbeitsfirmen, 30 Prozent waren es im Jahr 2018 in Deutschland. Ob die vermittelten Menschen wirklich vom Unternehmen übernommen oder aufgrund der Leiharbeit in der Branche Fuß fassen, ist jedoch wissenschaftlich umstritten.

Für Burgstaller und viele seiner Kollegen droht jetzt das, was laut der Hans Böckler Stiftung im Schnitt jedem dritten Leiharbeiter droht, deren Einsatz endet: Sie rutschen direkt in Hartz IV ab, obwohl sie vorher sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben. Denn: Wenn der Verleiher keinen weiteren Einsatz findet, darf er den Leiharbeiter entlassen.

Was Procter & Gamble vorhat

Gefällt dem Leiharbeiter die nächste Stelle nicht, kann auch er kündigen. Soweit könnte es jetzt auch in Marktheidenfeld kommen. Ralf Eisenbeiß, Pressesprecher von Franz & Wach, sagt: "Wenn ein Einsatz endet, haben wir ein großes Eigeninteresse, weitere Einsätze zu finden. Nicht zuletzt, weil wir daran auch Geld verdienen. Im Einzelfall klappt das, aber hier ist das bei der aktuellen Lage schwierig."

Johann Burgstaller hat mit der Leiharbeit abgeschlossen. Auch Procter & Gamble scheint Leiharbeit zumindest zurückfahren zu wollen. Laut Pressesprecherin Gabriele Hässig baue man den Standort aus, investiere und stärke entsprechend die Kernmannschaft am Standort. Dazu suche man weiter nach qualifizierten Mitarbeitern und Auszubildenden direkt für das Werk.

(*): Name redaktionell geändert.

 
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Kommentare
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    Danke für diesen Artikel und diese Recherche!
    Wenn man sonst de Main-Post liest, könnte man meinen, der normale Leser sei kein Arbeitnehmer oder Renter, sondern großbürgerlicher Lebemann und geborener Privatier, der allein aus seinem ererbten vielschichtigen Vermögen mehr als ausreichende Einkünfte zieht und völlig unabhängig von der Arbeitswelt ist. Das Gegenteil ist doch der Fall. Bitte mehr aus dem nackten und manchmal brutalen Arbeitsleben berichten! Auch über die Umstände. Wer hat keine Kantine? Welche Industriegebiete fahren keine Busse und was sagt die Politik dazu? Wie sind die Perspektiven junger Arbeitnehmer? Wie sieht das aus Sicht älterer Arbeitnehmer aus, die noch nicht in Rente gehen können, aber das eigentlich möchten? Wer musste schon massiven Gehaltsverzicht hinnehmen, weil sein Betrieb geschlossen hat? usw.
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  • M. S.
    Ich schreibe hier als ehemaliger Betroffener, nicht bei Procter & Gamble, sondern bei Warema. So ähnlich ging es mir nämlich auch 2008. Man ist als Leiharbeiter ein Mensch zweiter Klasse, hat keine Sicherheit, wird schlecht(er) bezahlt und nach Belieben des Entleihers entsorgt. Moderne Sklaverei, etabliert durch den Genossen der Bosse Gerhard Schröder und weitergeführt durch alle anderen Regierungen. Dabei hat es schon immer eine sachgründige Befristung von Arbeitsverträgen in Deutschland gegeben, dieses Argument pro Leiharbeit ist also ein Ammenmärchen. Es geht nur um die Unterhöhlung von Tarifverträgen, um Schleifung der Arbeitnehmerrechte und um Profit ganz im Sinne der Anleger. Was interessieren schon die Interessen der Werktätigen, die für die Unternehmen die Werte erst schaffen? Leiharbeitsfirmen sind meiner Ansicht nach die größten Schmarotzer in diesem Wirtschaftssystem, denn sie Leben von anderer Leute Muskelkraft ohne selbst produktiv zu sein. Leiharbeit gehört verboten!
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  • W. B.
    @MainPost: Dranbleiben an dem Thema
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