
Krystyna Kuhn wird von der Schriftstellerin wieder zur Dichterin. In 25 Schaffensjahren hat die Autorin aus Lohr 21 Bücher geschrieben, Krimis, Thriller und Jugendliteratur. Ihr belletristischer Familienroman liegt noch bei der Agentur. Jetzt wendet sich die Lohrerin ganz der Lyrik zu. Auf Reime kann sie verzichten, nicht aber auf Zeitschriften und Büchern, aus denen sie ihre Worte nimmt.
Auf dem Küchentisch liegen ausgeschnittene Worte, etwa zwölf Dutzend. Von Amokläufe bis Zahl. Tiger, Trotzdem, TANZEN, tun. WIE, Worte, WIESEN, WIND, Was. Egal sind ihr Schreibweise, Buchstabengröße, Farbe. In der Tischmitte: ein kleiner Stapel Schreibmaschinenpapier, DIN A4, weiß, und eine feine Schere, die Worte aus Überschriften geschnitten hat. "Am Anfang brauch' ich Ordnung", erklärt die 63-Jährige. "Dann wird es immer chaotischer."
Geld in eine elektrische Schreibmaschine investiert
Ohne Worte wäre sie aufgeschmissen. Nicht jene, die sie tippt. "Wenn man mit Laptop schreibt, verliert die Hand ihre Fähigkeit", sagt Kuhn. "Bei mir sind die Tasten mit dem Gehirn verknüpft, da ich schneller denke." Während ihre fünf Schwestern das Geld ihrer Aussteuerversicherung in Geschirr, Besteck und Bettzeug investierten, leistete sie sich eine elektrische Schreibmaschine für 2000 Mark.

Sitzt Kuhn vor einer Wortwiese, schweift ihr Blick über die Schnipsel, sammeln ihre Finger einige Worte ein, drapieren sie auf dem Papier. "Mein Leben ist ...". Sie sucht, findet "still". Sie ergänzt den Satz damit, sucht aber weiter, findet "wird", tauscht aus. Passt auch: "Mein Leben wird still". Welch einen Unterschied das eine Wort doch macht. So ist auch der Titel ihrer Ausstellung, die ab Mitte Juli in Marktheidenfeld gezeigt wird, entstanden: "Am Anfang ist das Wort".
Interessante Worte aus Kinderbüchern
In einer grünen Kiste liegt "Der Spiegel" obenauf. Darunter ein Stapel Illustrierter. "Damit decken mich Bekannte ein", erklärt Kuhn. In fünf Jahren hat sich ihre Art zu arbeiten herumgesprochen. Sogar Bücher zerschneidet sie – meist Kinderbücher, weil dort "schöne, große und oft auch interessante Worte" zu finden sind. "Die kauf' ich dann oft noch einmal – aus Respekt vor dem Buch."
"Der Mann, der vom Himmel fiel". Bausteine wie diese zerlegt Kuhn nicht. Dieser allerdings landet in einer kleinen, schlichten Glasvase. Für Kuhn ist das Ausschuss. Für die Besucher der bevorstehenden Ausstellung Material zum Experimentieren.
Inspiration aus wahllos ausgeschnittenen Worten
"Schöne Satzbausteine" wie diesen findet Kuhn oft in Reportagen. Titel wie "Wenn der Fluss kommt" oder "... habe Insekten im Kopf" sind Anstöße für ein aktuelles Gedicht. Wahllos ausgeschnittene Worte sind Inspirationsquellen. Was sie anspricht, nehme sie als Impuls auf, sagt Kuhn. "Dann guck’ ich, was ich noch finde. So baut sich etwas auf."

Neben ihr liegt ein handelsüblicher Ordner mit geviertelten Klarsichthüllen, jedes Fach gefüllt mit Worten, geordnet nach Themen oder Wortarten. "Schicke ich Wind", hat sich Kuhn grade zusammen gepfriemelt. Dann ersetzt sie den Wind durch Wunder, fügt etwas an. Daraus wird "Schicke ich Wunder ... die Reise". Auch das fehlende Wort "auf" findet sie schnell in ihrer Sammlung von Präpositionen. Beim Sammeln haben sich in fünf Jahren Favoriten herauskristallisiert. Bei "Reisen" bedient sich Kuhn gerne. "Wetter mag ich. Naturwissenschaften mag ich. Weltraum mag ich sehr gerne."
Krystyna Kuhn verwendet Werke von Künstlerfreunden für ihre Arbeit
Auf einem Klemmbrett für technische Zeichner hat Kuhn ein Blatt aus einem Zeichenblock eingespannt. Darauf ein Gesicht, mit groben, breiten Pinselstrichen skizziert. "Wenn die Sonne erlischt, leben Insekten in meinem Kopf, Atlasspinner weben Oasen der Erinnerung ...". Grob geordnet, nicht ausgerichtet, liegen die noch losen Wortfetzen auf diesem Porträt. Bilder, Fotos und Zeichnungen bevorzugt Kuhn als Hintergrund für ihre Klebereien. "Die Bilder bringen Menschen dazu, auch die Texte zu lesen", ist sie überzeugt.

"Ich wollte immer auch bildende Kunst machen", erklärt sie freimütig. "Aber das kann ich nicht. Ich habe zwei linke Hände." Und Künstlerfreunde. Das Aquarell auf dem Zeichenbrett hat ihr Anja Flügel aus Weibersbrunn für diesen Zweck geschenkt. Ihr Cousin, der Lohrer Maler Richard Kuhn, hat sie von Anfang an "extrem unterstützt". Der Profi-Fotograf Thomas Kohnle, mit dem sie von Jugend an befreundet ist, stellt Fotos zur Verfügung.