
Ein Beispiel christlichen Gemeinschaftssinns von Privatleuten war die Blatterspiel‘sche Stiftung. Sie hieß später Bischöfliche Knabenerziehungsanstalt und wurde auch Knabenrettungsanstalt genannt. Die Buben hießen im Karlstadter Volksmund „die Hasen“ oder „die Anstaltshasen“, was auf ihre grüne und braune Kleidung gründete. Es war ein gewohntes Bild in Karlstadt, wenn die Buben in Zweierreihen, einheitlich und sauber gekleidet, zur Kirche und sonntags in den Hagwald gingen: die Kleinen vorne und als Abschluss der „Orgelpfeifen-Gruppe“ zwei Ordensschwestern.
Der Ursprung der Erziehungsanstalt liegt in Karsbach bei Gemünden. Der Bauernsohn Johannes Blatterspiel, am 18. Juli 1826 geboren, der als Erzieher und Lehrer in einem Knabenseminar bei Fulda arbeitete, wollte mit finanzieller Unterstützung seiner Eltern und Geschwister eine Knabenrettungsanstalt in seinem Heimatort errichten und kaufte ein Haus (heute Hauptstraße 22). Hier eröffnete Blatterspiel mit Zustimmung der Königlichen Regierung von Unterfranken und Aschaffenburg 1854 seine Erziehungsanstalt. Im Mai 1855 stellte Blatterspiel die verwitwete 38-jährige Katharina Margaretha Zobel aus Würzburg ein, die 14 Jahre Erfahrungen in der Onymusstiftung (Marienanstalt Würzburg unter Leitung der Franziskanerinnen von Maria Stern in Augsburg) in Karsbach einbrachte.
Umzug von Karsbach nach Karlstadt
Weil der Standort für die Knabenerziehungsanstalt bald zu klein geworden war, verkaufte Blatterspiel im Frühjahr 1857 das Haus in Karsbach und 105 Grundstücke der Familie. Er erwarb in Karlstadt das Anwesen Nummer 87 (heute Hauptstraße 21). Blatterspiel zog mit zehn Zöglingen und seinen jüngeren Brüdern Michael und Johann Georg ein. Im selben Jahre, am 1. Oktober, starb der Gründer der Stiftung mit 31 Jahren. Die Anstalt hatte Blatterspiel testamentarisch Katharina Zobel vermacht.
Die Zöglinge besuchten die Karlstadter Volksschule. 1859 war das Haus Hauptstraße 87 für die 18 Kinder und Jugendlichen bereits zu klein und wurde verkauft. Zobel erwarb ein großräumiges Haus in der Nummer 284 (heute Hauptstraße 65) und eine ehemalige Posthalterei mit Garten am oberen Tor. Der erste eigene Lehrer begann 1860 den Unterricht nur für die Anstaltskinder.

Die Schulden stiegen. Zum Glück gab es Wohltäter, auch wenn die wenigsten Kinder aus Karlstadt und der Umgebung kamen. Katharina Zobel erweiterte ihr Engagement. Sie übernahm die ambulante Krankenpflege mit nächtlichen Hausbesuchen bei erkrankten Bürgern.
Ab 1858 übernahmen nacheinander hiesige Pfarrer die Verwaltung der Anstalt. Sie stellten Lehrer ein, bis 1864 der 38-jährige Michael Blatterspiel, Bruder des Gründers Johannes, sich zum Lehrer ausbilden ließ und fortan die Kinder unterrichtete. 1866 lebten in der Anstalt 36 Buben.
Cholera und Typhus forderten Opfer. Zu ihnen gehörte am 11. Februar 1868 auch Katharina Zobel. Schon sechs Jahre vorher hatte sie testamentarisch die Knabenerziehungsanstalt dem bischöflichen Stuhl vermacht. Das Erbe trat der Würzburger Bischof am 13. August 1868 an.
Mit der Führung der Zöglinge betraut waren auf Wunsch von Katharina Zobel ab Ende 1868 die Regulierten Tertiarbrüder vom Heiligen Franziskus aus Waldbreitenbach bei Trier. Nonnen der Augsburger Franziskanerinnen von Maria Stern übernahmen zwei Jahre lang für den erkrankten Lehrer Blatterspiel den Unterricht. Ab 1883 waren sie allein für die Bildung und Betreuung der Kinder verantwortlich.

Bauliche Mängel und Enge im Gebäude veranlassten zum Kauf des Nachbaranwesens in der Oberen Spitalgasse. Umgebaut zu Lehr-, Schlaf- und Sanitärräumen fanden nun bis 50 Jungen Aufnahme in der Erziehungsanstalt. Für einen größeren Hof und Turngarten wurde ein Hinterhaus erworben und abgerissen. Gelder kamen vom Kreis, vom Distrikt und von großzügigen Spendern. Mit dem Kauf weiterer Nachbarhäuser, mit Sanierungen, Abrissen und Neubauten schaffte die „Bischöfliche Knabenerziehungsanstalt-Blatterspiel’sche Stiftung“, wie sie seit 1904 hieß, für 80 Buben ein Heim.
Die Kinder zwischen drei und 14 Jahren kamen aus Karlstadt und dem Umland, aber auch aus dem restlichen Franken, aus Baden, dem Allgäu und aus München. Es waren Waisen, die ihre Verwandten oder ihre Gemeinden gegen Bezahlung in der Anstalt abgaben und oft ihrem Schicksal überließen. Es waren schwer erziehbare sowie körperlich und geistig behinderte Buben, die in Karlstadt auf ein selbstständiges Leben vorbereitet wurden. Viele Kinder wurden auch in den Schulferien nicht von ihren Eltern besucht oder heimgeholt, was die Franziskanerinnen nicht ungern sahen, hinterließen doch die sporadischen Kurzbesuche eher verwirrte und verzweifelte Kinder.

Die Schulverhältnisse waren schwierig, da die Knaben aus unterschiedlichen, meist unteren sozialen Schichten kamen und in verschiedenen Jahrgängen zu Klassenverbänden zusammengewürfelt wurden. Trotz der widrigen Lehrumstände erklärte die Königliche Distriktschulinspektion die Knabenerziehungsanstalt 1902 zur „Musterschule“. Die 14-Jährigen wurden auch nach der Schulzeit nicht allein gelassen. Lehrherren boten Ausbildungen, eine Chance, die die meisten Buben auch ergriffen. Schon 1865 zeigte sich: Von 19 bei Handwerkern in der Umgebung in die Lehre gebrachten Zöglinge gab es nur Klagen über zwei Burschen.
Die Kinder, die katholisch sein mussten, hatten in der Anstalt einen festgelegten Tagesablauf gemäß der klösterlichen Regel „bete und arbeite“. Disziplin war das oberste Gebot. Neben dem Schulunterricht am Vor- und Nachmittag standen Mahlzeiten, Gebete, Hausaufgaben, Turnen, Anstandslehre, Werkunterricht, Fremdwörtererklärung und Erziehung zur Lebenstüchtigkeit auf dem Tagesprogramm. Samstag war frei, weil alle Kinder gründlich gewaschen wurden.
Die meisten Buben wurden schlecht beurteilt
Gewissenhaft führten Michael Blatterspiel bis zu seinem Tod 1889 und danach die Hausmutter ein Charakteristikbuch (Censusbuch) über jeden einzelnen Zögling. Die Beurteilungen sind nicht schmeichelhaft für die meisten Buben, aber auch nicht für die Lehrer. Die Mehrzahl der 376 im Censusbuch bewerteten drei- bis 14-jährigen Knaben wurden als verlogenes Subjekt, Kretin oder Idiot bezeichnet. Sie waren verlogen, verstohlen, heimtückisch, elendig, verschlagen, boshaft, abgefeimt, talentlos, verwildert, geistig verwahrlost und mit einer Diebesnatur ausgestattet.
In der undifferenzierten Schwarz-Weiß-Sicht der Lehrer gab es dagegen die Gutmenschen, die lernbegierigen, stillen, braven, heiteren, fleißigen, talentierten, gutmütigen, aber oft ängstlichen, schwachen, an Epilepsie oder Lungenkrankheit leidenden Knaben, von denen einige schon im frühen Kindesalter starben. Ein Beispiel: Der lungenkranke 14-jährige Halbwaise Johann Franz S. aus Dettelbach starb 1886. Im Charakteristikbuch ist zu lesen: „Vor seinem Verscheiden lächelte er in seliger Verklärtheit (jedesmal bereits fünf Minuten lang) mit strahlenden Blicken und weit geöffneten Armen unverwandt aufwärts sehend.“

Das Gebäude in der Hauptstraße 67 hatte die Beschießung durch die Amerikaner zwischen dem 3. und 6. April 1945 schadlos überstanden. 1948 begann die 20-jährige Volkschullehrerin Maria Schler, später verheiratete Niemuth, aus Karlstadt im Auftrag des Staatlichen Schulamts den Unterricht in der Erziehungsanstalt. Mit ihren Kolleginnen, den Franziskanerinnen, betreute sie die nun meist von den Eltern oder vom Jugendamt abgegebenen Buben, keiner von ihnen kam aus Karlstadt. Der von Schler aufgebaute Knabenchor sang mit den Kapuzinern eine Messe. Die Jungen spielten Theater vor dem Karlstadter Publikum. Der Nikolaus (Stadtrat Josef Schweitzer) brachte jedem Kind ein kleines Geschenk, gespendet von hiesigen Geschäftsleuten.

1952 hatten die 119 Kinder zwei helle geräumigere Schulsäle, ein modernes Wannen- und Brausebad und einen neu ausgestatteten Speisesaal. Doch das Ende für das Knabenheim war eingeläutet. Die 100-Jahr-Feier am 7. Oktober 1954 sah hohe politische und kirchliche Würdenträger, die auch ihr Portemonnaie öffneten. Die Erziehungseinrichtung – weithin geschätzt und auch bei der heimischen Bevölkerung anerkannt – war mit 124 Buben überbelegt. 1955 verließen die Franziskanerinnen wegen Nachwuchsmangel Karlstadt. Andere von Domkapitular Dr. Brandner angeschriebene Orden konnten oder wollten keine Ordensschwestern nach Karlstadt entsenden.

Einen letzten Rettungsanker, die Erziehungsanstalt zu erhalten, sah Brandner in der Wasser- und Schifffahrtsdirektion, die in der Residenzstadt eine Schifferkinderheim bauen wollte. Warum in Würzburg und nicht in Karlstadt? Bei Inspektionen, auch im Auftrag des Ordinariats, schied Karlstadt allerdings aus. Mit seinem Vorschlag, aus einem Privatnachlass das Brendel’sche Haus an der Eußenheimer Straße in Karlstadt für ein Jugendheim aufzubauen, traf Stadtpfarrer Paul Steinert auf taube Ohren bei Bischof Julius Döpfner. Am 11. Januar 1956 beschloss das Ordinariat die Auflösung der „Bischöflichen Knabenerziehungsanstalt - Blatterspiel‘schen Stiftung“.
Zur Autorin: Martina Amkreutz-Götz war 37 Jahre Redakteurin der Main-Post in Karlstadt. Sie ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des Geschichts- und Heimatvereins Mühlbach 1987 und Mitglied im Historischen Verein Karlstadt.
Literatur: Amkreutz-Götz: Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder, Jahrbuch Karlstadt 2007/08.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter https://www.mainpost.de/dossier/geschichte-der-region-main-spessart/